Georgi Gospodinov, Zeitzuflucht (für Bilder bitte anklicken)

Oh, welch verführerischer Gedanke: Eine Klinik für Vergangenheit, in der Alzheimer-Erkrankte im für sie „richtigen“ Jahrzehnt landen. Richtig ist dasjenige, in dem sie jung waren, an das sie sich mit Hilfe der passenden Accessoires erinnern. Wenn sie in der Gegenwart nicht mehr zu Hause sind, dann in einer wieder-hergestellten Vergangenheit. Möbel, Gebrauchsgegenstände, Kultur (Musik der Zeit, Reprint-Zeitschriften), Politik, Gerüche, Esswaren … Seitdem ich alt bin, interessiert mich die Wahrnehmung von Zeit ungemein. Logisch, oder? Mit im Paket: Sehnsucht nach der Vergangenheit. Bei den Freunden im Bad nach dem uralten Rest Parfüm fahnden, nach der Pfütze der Sorte, die ich vor 40 Jahren trug. Überwältigung durch das Gefühl, halbwegs jung zu sein, gleichzeitig das Bedauern der Versäumnisse und Irrtümer vieler Jahre Leben. An diese Gefühle knüpft Zeitzuflucht unmittelbar an, schmeichelt sich bei mir ein, wird flott verschlungen, Begeisterung auch über die Erzählkonstruktion: Der Ich-Erzähler hat ein Alter Ego namens Gaustin. Geschildert zunächst als der Freund und Arzt, der in vielen Zeiten zu Hause ist, irgendwie fluide, dann diese Kliniken einrichtet, für die der Ich-Erzähler passende Artefakte sammelt. (Beim Aufräumen in der Wohnung unserer Mutter, nachdem sie mit 105 verstorben war, fanden wir im Wäscheschrank ein Stück Seife, das definitiv nach „1960“ roch. Welche Flut von Erinnerungen!) Zunehmend wird unklar, wer wen erzählt? Gustin das Ich? Das Ich Gaustin? Plötzlich wird mir klar, wie sehr ich diesem Erzähler auf den Leim gegangen bin. Hortet nicht jeder über 50 einen Vorrat an Vergangenheit, die wie die gute alte Zeit wirkt? Wie trügerisch. Die gibt’s ja gar nicht – und jeder, der sie uns verspricht, lügt. Das ist die Nachricht. Dieser Roman macht wirklich gründlich Schluss mit nostalgischen Gefühlen und Vorstellungen. Zunächst etwas irritiert, fasse ich zunehmend Lese-Mut und amüsiere mich köstlich über das ganze nostalgische Geplunder, das in den Reenactments auf grausige Weise vorgführt wird. Gospodinov holt eine Menge politisches Kaspertheater des 20. Jahrhunderts aus der Ecke, indem er den Vergangenheitsgedanken weiterspinnt: Immer mehr Menschen wollen in der Vergangenheit leben, die Staaten Europas entscheiden sich per Volksabstimmung für verschiedene Jahrzehnte, in die sie zurückkehren wollen. Die Wahlkämpfe vor den Abstimmungen zeigen den gesammelten Irrsinn der Vorstellung von „früher war alles besser“ auf. Es wird immer absurder. Es steht zu befürchten, dass wir es hier mit einer ganz treffenden Analyse der Gegenwart zu tun haben, die leider hochaktuell ist. Dieser Erzähler ist ein Verführer, der uns mit unseren eigenen nostalgischen Emotionen in eine Falle lockt, in der ich dann ebenso irritiert, amüsiert als auch düster saß. Und schlimmer: dann verschwindet er auch noch… wohin? Zum 1. September 1939? In sprachloses Vergessen? Wer erzählt hier wen? Toller Text, den man richtig erleiden muss! Lassen Sie sich darauf ein. Ich schau derweil mal weiter nach Gospodinov – und sage dann Bescheid, was ich finde… Die Länder des Ostblocks wählen 1989 als Wunschort für den Neustart: „Zu dieser Zeit gab es noch einen unantastbaren Vorrat an Zukunft, und wir teilten ihn mutig auf. Absolut naiv, wie man später sah.“ (Zeitzuflucht, S. 267)

Winnetou August von Theodor Buhl (für Bilder bitten anklicken)

Theodor Buhl, Winnetou August, Frankfurt am Main 2010 Diese Schilderung der Wirren des Kriegsendes aus der Sicht eines Achtjährigen gehört meiner Meinung (Danke für die Empfehlung, Claudia!) zum Unmittelbarsten, Berührendsten, was es zu diesem Thema zu lesen gibt. Leider ist der Text nicht sehr stark rezipiert worden, hat zum Zeitpunkt des Erscheinens (2010) nicht die Beachtung gefunden, die er verdient hätte. Diese unprätentiöse Art, über Schrecknisse zu berichten, ist geeignet, jeden und jede verstehen zu lassen, was Vertreibung bedeutet. Die Familie des Kleinen flieht vor der Roten Armee, kehrt auf der Flucht vor amerikanischen Bombardements wieder um und erlebt kreuz und quer durch Schlesien alle vorstellbaren Gräuel der Flucht. Der achtjährige Rudi erlebt diese Zeit als Schock und Abenteuer zugleich. August, sein Vater, ist für ihn eine Art Wunderfigur, wie anders sollte Rudi sonst auch psychisch überleben können? Durch seine Identifikation mit einer abenteuerlichen, scheinbar unverwundbaren Figur – Winnetou – schottet er sich gegen die Realität ab, gerät im Spiel dadurch aber auch in höchste Gefahr. Theodor Buhl hat hier aus seiner Erinnerung eine Figur geschaffen, die Kriegsterror unmittelbar für den Leser erstehen lässt, erklärt, wie Erinnerung entsteht und – kaum zu glauben – oft auch noch witzig wirkt. Leider ist Theodor Buhl am 8.4.2016 verstorben. Ich finde: Theodor Buhl hätte verdient, dass Sie endlich sein Buch lesen!

Fundstücke (für Bilder bitten anklicken)

Was tun viele zu Beginn des neuen Jahres? Ausmisten?! Ich bin diesmal auch dabei. Nicht nur Dinge hervorholen, betrachten, bewerten…aufheben oder weitergeben, wegwerfen… Da gibt es: Texte zu Abschieden; Gegenstände, die viele Jahre nützlich waren; Hoffnungen, die lange Zeit aufrecht erhalten wurden… alles dabei.  Es sind sogar Dinge in meinem Sortiment, die mehr als 100 Jahre aufgehoben wurden. Die bleiben natürlich…immer mit dem Gedanken, was die nächsten Generationen wohl damit machen werden. Aber das kann uns dann von diesem einen bestimmten Punkt aus egal sein. Das Interessante ist: Das ist es eben doch nicht! Aber das wiederum kann den Nachfolgenden egal sein. Ich zeige meinen Leserinnen (21.1.24) ein paar Dinge, Gedanken, Hoffnungen und Texte, die vergangen, aber doch nicht ohne Bedeutung sind. 2. Fundstück (22.02.2024): Der Schlüsselbund aus Neuhausen   ….Doof gefragt: Was nimmt man denn so mit, wenn man flieht? Pferde, Wagen, warme Decken, die Chronik der Familie? –  Und den Schlüsselbund aller Häuser und Ställe des Gutes, das man verlassen muss! Man kommt ja irgendwann zurück…Für mich ist dieser Schlüsselbund Ausdruck der Hoffnung auf Wiederkehr. Über die Gräuel der Flucht ist berichtet worden, soweit die folgenden Generationen das hören wollten. Wer das nochmal verstehen (und aushalten) will, dem sei hier unbedingt Winnetou August von Theodor Buhl (2010) empfohlen. In diesem Text, unter diesen Zeitumständen, schweigt dazu des Sängers Höflichkeit (oder hätten Sie gerne der Sängerin Höflichkeit?). Also kurz: Ich schweige mich hier zum Thema Fluchtumstände mal aus, denn wir sehen dazu gerade so viel Schlimmes, wie man es kaum noch verdauen kann. Unsere Generation hatte das große Glück, nicht direkt von Krieg betroffen zu sein, seitdem der Schlüsselbund hier im Westen ist. Dafür sind wir sehr dankbar, wenn auch der Schlüsselbund zeigt: So lange ist das nun auch wieder nicht her!   Fundstück (21.01.2024) Fangen wir mal ganz einfach an im Jahre 2010. Den hier unten gab es ab September 2009. Der iPod nano und ein paar gute Bücher waren so ziemlich meine wichtigsten Hilfsmnittel für einen vernünftigen Urlaub. In Ruhe lesen, in Ruhe Musik hören und die Welt sah nach wenigen Tagen schon mal wieder ganz anders aus. Leider machte mein erster (und schon recht betagter) iPod nach wenigen Tagen in der Sonne Teneriffas schlapp und ich war trotz unglaublich schöner Botanik in unserem Hotelgarten und der tollen Umgebung etwas gestört in meinem Urlaubserleben. Wir machten uns auf die Suche nach einem Elektronikladen und dort wurde mein alter Musikplayer bestaunt, als stamme er aus dem Präkambrium. Der ganze Laden lief zusammen und amüsierte sich darüber, dass er bis vor wenigen Tagen noch funktioniert hatte. Etwas beleidigt kaufte ich diesen hier und freute mich, dass er sogar in meiner Lieblingsfarbe vorhanden war. Beim Aufräumen der Elektronikschubladen kam er mit vielem anderen zu Tage, das ich länger nicht besichtigt hatte. Diesen kleinen Kerl hier finde ich sogar immer noch sehr hübsch. Nach etwas Suchen tauchte auch das Zubehör auf: Kopfhörer mit Kabel und Döschen, Laderampe, Ladekabel. Und dann: Er ließ sich ohne weiteres und schnell laden und ich hörte mit Staunen meine Musikmischung von 2010ff (435 Titel von Romantik bis New Age und Carlos Santana). Ich erinnerte mich an das Kabel, das mich anfangs grüblerische Tage meines Lebens kostete, bis ich endlich verstanden hatte, dass man den Schalter bei der ersten Umwicklung in der Mitte platzieren muss. Mit dem Kabel habe ich mich in der Muckibude dann regelmäßig fast stranguliert und wusste oft nicht wohin mit dem iPod, der ja an kurzen Strippen an meinen Ohren bammelte und manchmal an den Löffeln ordentlich zerrte. Die verschiedenen Täschchenlösungen meiner Mitsportler habe ich damals mit einer gewissen Verachtung beobachtet und mich nur einmal mit mäßigem Erfolg daran beteilgt. Unpraktisch! Zur Ausrüstung gehörte dann noch eine ordentliche Laderampe: Und Stecker wie Schaufeln: Trotz meiner Freude über diese Musik-Nostalgietour habe ich dann fröhlich zu meinem Handy und den hübschen kleinen Bluetoothhörern gegriffen.  

Meine Oups!-Momente 2023 (für Bilder bitte anklicken)

Teil 1(29.10.2023): Kennen Sie das? Sie betrachten sehr ernsthaft und um kulturelle Fortbildung bemüht einen Tempel/eine gotische Kirche/ein Monument…, drehen sich um und beobachten, wie ihr Reiseleiter während dieser Spezialführung sich angelegentlich und gelangweilt in der Nase bohrt? Das ist dann fotografische Contenance, kein Foto zu machen! Aber es gibt ganz viele Momente auf Reisen und zu Hause, die dieses kleine Oups! im Kopf erzeugen, wahlweise von leichtem Grinsen, allgemeinem Zweifel oder mildem Erstaunen begleitet. Ein Ort in der Welt, an dem mir dieses Gefühl besonders oft aufstieg, war Singapur. Der Kontrast zwischen meinem norddeutsch-karg-miesepetrigen Geschmack und der bunten Material-Unbesorgtheit zum Beispiel des in Singapur ausführlich gefeierten chinesischen Neujahrsfestes war mir eine einzige „Rumoupserei“. Aber in den Gardens by the Bay fand sich ein schönes Bild für dieses erstaunte Gucken: die Grinsekatze! Sie erinnern sich: Alice in Wonderland, dort taucht besagte Katze auf, die die interessante Eigenschaft hat zu verblassen, ihr merkwürdiges Grinsen aber noch lange zurückzulassen. In all‘ dem Hasen- und sonstigen Figurengewusel fiel die Grinsekatze mir auf als gute Erklärung für das Gefühl, mit dem man dort im Flowerdome am Neujahrstag herumstolperte. Dann gibt es natürlich auch viele Momente, die durch die Kombination von Unerwartetem und Wunderlichem zustande kommen, zum Beispiel diese Kuh mit der schlecht gelaunten Taubenfütterin. Besonders ergiebig für Fotos von Oups!-Produkten und Oups!-Läden sind Flughäfen, auf denen ich mich wegen der Wartezeit immer mal gerne herumtreibe. Weil diese Oups!-Bilder oft in der Ernsthaftigkeit „ordentlicher Reiseberichte“ untergehen, habe ich mich nun entschlossen, für ein paar Wochen immer sonntags diese Nebenerzeugnisse auf momos-memos zu veröffentlichen. Gerade gestern auf dem Rückweg vom Lingener Wochenmarkt sah ich dieses winzige Fahrrädchen fest verzurrt an diesem riesigen Laternenmasten….oups! Oups!-Momente 2 (5.11.2023) Komisch, immer wenn ich diesen einen Weg über den Friedhof gehe, muss ich an Lichtenberg denken: „Jeder Mensch hat auch seine moralische backside, die er nicht ohne Not zeigt und die er so lange wie möglich mit den Hosen des guten Anstands zudeckt.“ Quatsch, denke ich dann. Engel mit Hosen? Quatsch…und widme mich anderen Grabsteinen und Gedanken… Nicht immer ist gut gemeint auch gut gemacht, worüber man sich bei religiösen Motiven dann zwar mit Kommentaren tunlichst zurückhält. Trotzdem: meine Kamera hat die Angewohnheit, dann völlig selbstständig die Richtung zu wechseln…was ich da manchmal später für Fotos finde..ist schon merkwürdig.   Jetzt fängt dann auch bald die schöne Zeit an, in der es von geschmackvollen Dekorationsdingen nur so wimmelt. Darauf freu‘ ich mich schon sehr (und werde in Kürze berichten). Im Baumarkt gab es die ersten Vorfreude-Hinweise (eine große deutsche Kaffeefirma macht gerade Reklame mit: 20 % Vorfreude-Rabatt) . Der Baumtransport für unser aller Lieblingsfest ist jedenfalls schon geregelt: Dort fand ich auch individualisierte Zollstöcke, genauer Gliedermaßstäbe. Ich drehte das Karusell, das fein säuberlich nach ABC geordnet war (Dieter allerding beherrscht das Alphabet nicht so gut und hat falsch zurückgesteckt): kein einziger Frauenname! Währenddessen wurden wir von einer sehr kompetenten Dame sehr gut beraten. Ein Gliedermaßstab hatte dann wenigstens die Aufschrift Frauenpower! Na ja…und dazu das übliche Text-Gruselkabinett,  wie Meiner ist…Ich Chef – du nix…ein Kerl wie ein Baum…Schwarzarbeiter!  AUHA!! Einer gefiel mir dann doch: Finger weg! Gesagt!-Getan!….   Oups!-Momente 3 (12.11.2023) Fotto!Fotto! Zu Beginn dieser Bewegung haben wir uns in Europa über die in Rothenburg ob der Tauber einfallenden Japaner amüsiert: Sie polterten aus den Bussen, schauten nicht, nein überhaupt nicht, rissen die vor dem Bauch bammelde Mamya-Kamera hoch und …klack…klack..klack… Heute gibt es verschiedene Ausprägungen des Phänomens. Allen gemeinsam ist eine exorbitante Selbstdarstellungs- und Dokumentationswut (Ich war da!) Das Graffiti oben scheint mir eine gute Versinnbildlichung dieses Vorgangs. Seitdem nenne ich das Phänomen Fotto!Fotto! Wenn man bemüht ist, etwas von der Athmophäre einer Stadt einzufangen (unten Lissabon mit einem Denkmal für die Pflasterarbeiter), kann es so weit gehen, dass man partout nicht das Denkmal selbst vor die Linse bekommt, sondern immer garniert mit Selbstdarstellern. Jeder, der versucht Gebäude, Landschaften, Gärten…zu fotografieren, kennt das lästige Phänomen: Garnitur mit posierenden Menschen aus aller Welt! Die Selfieteritis ist in Asien besonders ausgeprägt, aber auch wir Europäer gehen da gerade auf die Überholspur.       Hier – muss ich gestehen – haben mich neben Fotto!Fotto! die Schuhabsätze interessiert.     Wenn es ans Heiraten geht, sind an allen berühmten Orten der Welt die Fotto!Fotto!-Künstler unterwegs. Fotos sind oft gewollt und erbeten… …manchmal aber nicht so wirklich… Oh du fröhliche! Es kommt – unaufhaltsam – es kriecht aus allen Ecken, es klingelt schon wieder so ein bisschen. Weihnachten schleicht heran auf leisen Sohlen, zuerst wehren wir uns noch ein bisschen („nee, doch nicht jetzt schon Lebkuchen…“), aber dann werfen wir uns in die große sentimentale, süße Welle. Manches ist und bleibt zum Lachen, anderes wird von uns gnädig und mit Kinderaugen wahrgenommen. Es weihnachtet halt…hier ein paar Beispiele aus diesem Jahr (Also sozusagen Weinnachtsnachwehen im Januar 2023) Später mehr aus dem „laufenden Geschäft“. Dieses Exemplar hat nicht gewonnen, ist aber schon bemerkenswert.   Oups!-Momente 5 (4.12.2023) Während ich weiter Oups!-Weihnachtsmomente sammele (den sprechenden Hirschen kennen wir schon zu lange, um ihn noch komisch zu finden), hier noch einmal eine Runde aus dem letzten Jahr. Viele wunderliche Anblicke entstehen nicht sozusagen an und aus sich, sondern durch den Kontext, durch andere Erwartungshaltungen. Ich musste immer wieder über den bunten Blumenschmuck aus Kunsstoff lächeln, wenn direkt daneben bei 30 ° die schönsten Geranien blühten… …wenn glückliche Schweine auf ziemlich viele Schinken von ziemlich toten Schweinen treffen…. …wenn auf Fischmärkten die seltsamsten Tiere herumlungerten, …bewacht (?!) von von den bestgenährtesten Katzen, die ich in ganz Portugal gesehen habe… ..behäkelte, bestrickte, bemalte, beklebte…Häuser… Nach dem Motto: „Kann mich gar nicht entscheiden, ist alles so schön bunt hier!“ (Nina Hagen) Oups-Momente 2023 (6) mit Jahresendgrüßen 😉 Liebe Freundinnen von momos-memos! (23.12.2013, Sie wissen ja: ungerader Tag=weiblicher Plural) Keine Angst! Ich erspare Ihnen und euch die betulichen Worte zum Jahresende, wo gemeinhin verkündet wird, was jede (23.12.) schon weiß: Dass das Jahr bald zu Ende sein wird, das Leben im allgemeinen schwerer, die Kriege bedrohlicher, die Hochwasserpegel höher und die Preise im Lieblingsrestaurant unerschwinglicher. Das und die einschlägig vorbestraften Ursachen brauche ich Ihnen nicht alle um die Ohren zu  säuseln. Es reicht doch gerade! Das Leben ist zwischendrin ja auch mal ganz lustig und hübsch. Klar: All das Ärgerliche, wie politische Unfähigkeit, Ignoranz, schlechtes Wetter, Aggressivität, Krieg, unschmackhafte Küche, meckernde Nachbarn, doofe Kinder…bleibt uns ja erhalten, aber es ist erlaubt, den Fokus auch mal auf etwas Erfreulicheres zu richten. Machen Sie das 2024 immer mal wieder, denn so richtig Tröstliches zu diesem neuen Jahr gibt es gerade nicht zu verkünden. Neben allerlei Tristem bietet diese Jahreszeit ja auch lustige Sachen – wenn man es nicht übertreibt: In den Konsumtempeln der Nation herrscht natürlich Hochbetrieb…. …wenn das eine oder andere geschmacklich vielleicht auch ein bisschen verrutscht wirkt… Also: Bleiben Sie unverdrossen und suchen Sie 2024 das Heitere im Leben, auch wenn es manchmal durchaus abwesend scheint! momo      

Marion Poschmann, Chor der Erinnyen (für Bilder bitte anklicken)

Marion Poschmann, Chor der Erinnyen (2023) Zugegeben: Zuerst habe ich den Roman ein paarmal nach links gelegt, um etwas anderes zwischendrin zu lesen. Zu viel Geraune, Gedichte, zu viel hoher Ton. Später hatte ich so viel Spaß an der Beschreibung der Figuren und Umstände, dass ich mich beim Lesen ungeheuer amüsiert habe. Diese „Sorte“ Frauen, wie Birte, Mathilda, Olivia macht mich lachen und grausen zugleich. Das ist so gut beschrieben! Und schließlich (was selten geschieht): Ich lese den Text direkt noch einmal! Also von vorne: Das Motto auf dem Vorsatzblatt ist von Annette von Droste-Hülshoff, es sind die zwei Schlussverse des Gedichts Am Turme. Davor ist dort zu lesen: Wär ich ein Mann doch mindestens nur/ So würde der Himmel mir raten/nun muss ich sitzen so fein und klar/und darf nur heimlich lösen mein Haar/und lassen es flattern im Winde. Neben dem belämmerten Schicksal der Autorin, die nicht besser sein darf als ihre männlichen Verwandten, die ihr Talent und ihre Lebensvorstellungen höchstens mal verschämt und in aller Heimlichkeit ausleben kann…wen haben wir denn da? Mathilda vielleicht? Der Roman umfasst als erzählte Zeit 8 Tage parallel zu dem Verschwinden ihres Gatten Gilbert (Geschildert in den Kieferninseln). Haupt-Personal: Mathilda, Gymnasiallehrerin für Mathematik und Musik; Birte, ihre Kindheitsfreundin, Inhaberin eines verschuldeten alternativen Cafés; Olivia, Studienfreundin, Archäologin mit einer gediegenen Moulagensammlung (=lebensgroße Abformungen von Körperteilen); Roswitha, Mutter von Mathilda (hat „Ahnungen“), Vater von Mathilda (hat die letzten Bergwerke abgewickelt und Angst vor den Visionen seiner Frau: „Wir hätten Birte nicht hereinlassen sollen“, sagte der Vater. Das hat alles wieder aufgerührt.“). Nebenpersonen, die zweimal auftauchen: ein Pekinese (Hund, der am Ende immer löwenähnlicher und damit zum chinesischen Wächterlöwen wird) mit einem Mädchen mit blauem Irokesenhaarschnitt. Warum ich zweimal ansetzten musste: Da ist zum Beispiel so eine Stelle am Schluss, wo mir die Angelegenheit doch arg mythologisch aufgeladen scheint. Ein blöder kleiner Hund als „Hüter der geheimen Kräfte des Universums“? na meinetwegen… Aber weiter von vorne: Fangen wir doch mal beim Titel an. Erinnyen gibt es drei (Alekto, Megaira, Tisiphone). Sie stellen personifizierte Gewissensbisse (Mathilda!) dar, gelten als Vertreterinnen mutterrechtlicher Prinzipien (Roswitha und die Mutter-ferngesteuerte Mathilda!), sie stehen in Zusammenhang mit Totenkult (Olivia!). Birte, die in Mathilda und ihrer Familie alte Schuldgefühle am Köcheln hält, kann gut als Rachegöttin durchgehen. Olivia und Birte, beide aus begütertem Hause, können getrost als komplett gescheiterte Existenzen angesehen werden. Bleibt Mathilda als Mittelschichtkind, Hoffnung der Eltern, begabt und bereit, immer alle Schuld auf sich zu nehmen. Von Mama hat sie gelernt, dass es schützt, wenn man seine Fähigkeiten verdeckt nutzt (gelingt bei Birte, die auch noch ein bisschen blöd ist, gar nicht), seine Emotionen gut in Form frisiert (ihre Mutter trägt immer noch so eine 60er-Jahre Betonhochfrisur!) und unter dem Radar des Neids ihrer Umgebung lebt. Dabei ist Mathilda wohl der Kontakt zu ihren eigenen Emotionen flöten gegangen. Sie lebt in einem Panzer von Pflichterfüllung, Affektabwehr und Unterwürfigkeit aus nur schlecht verwalteten Schuldgefühlen. Ihr abwesender Mann (wir wissen, dass er sich in Japan mit Tamagotchi herumtreibt) wird aus ihrer Innen-Perspektive als muttergesteuertes Ego beschrieben, das ihr Leben bis zur Auswahl der dysfunktionalen Möbel und Gebrauchsgegenstände (Telefon) bestimmt. Zudem glaubt er, seine Position als Mann des Hauses, der sich generell zu etwas Höherem berufen fühlt, durch Dozieren über Gott, die Welt und Bärte festigen zu müssen. Mathilda lässt ihn reden, weil sie weiß, dass er durch das Vorspielen ausgemachter Kennerschaft die Tatsache überspielen muss, dass hauptsächlich sie das Geld nach Hause bringt. Das und vieles andere ist so wunderbar gehässig und genau beobachtet, dass es wohl wenige Frauen gibt, die nicht an der einen oder anderen Stelle „jau genau!“ denken würden. Jede kennt so eine Birte, die an unpassender Stelle uns den Dolch des Ökogewissens in den Rücken rammt, so eine spinnert esoterisch einher brabbelnde Olivia (gut auch als „Coach für Hinterbliebene“), eine be- und verfilzte Kunstlehrerin (die, so Mathildas Verdacht, sich im Unterricht gemütlich die Nägel feilt), eine Mittelschichtmutter mit aseptischem Haushalt, permissive oder übergriffige Mütter mit unbeleckt von erzieherischen Impulsen aufwachsender unbeherrschbarer Brut … Zudem: Der ganze Reichtum an mythischen Motiven (Füße, Krallen, Wettermetaphern, Feuer), komischen Gruseleffekten (das Herz, das per Post verschickt wird) und ironischer Darstellung von Unterricht („Als Musiklehrer konnte man nur leben, wenn einem Musik nichts bedeutete“) soll hier nicht aufgezählt werden. Lesen Sie doch selbst! Und Mathilda? Die Autorin lässt sie über die Identifikation mit Wetterphänomenen zeitweilig zu sich selbst finden. Sie löst sich auf in ihrer Subjektivität und scheint Teil der natürlichen Umgebung zu werden. Sie folgt dem Wind, wird am Ende konsequenter Weise: Sturmtief Mathilda!   Toll! – Und gleichwohl: mit den Gedichten am Ende einiger Kapitel hadere ich noch ziemlich und manches ist mir zu viel esoterisches Geraune. Vielleicht bin ich ja mehr so ein rational-abwehrender Typ Frau wie Mathilda? Frau Poschmann, jetzt aber mal im Ernst: Sie werden mich doch nicht zwingen, den Roman ein drittes Mal zu lesen!? Ein Hintertürchen zum Weiterschreiben haben Sie sich ja mit dem Indian Summer gelassen, wo Gilbert und Mathilda wieder zusammenkommen könnten. Ach bitte, schreiben Sie das unbedingt auf! momo