Tipp 16: Barnes, Der Lärm der Zeit

Ein Buch mit Folgen: Lesen, um den Komponisten zu verstehen, seine Musik, Lesen als Vergnügen. Geht doch. Bei Barnes läuft alles das ineinander. So manche Künstlerbiografie versandet im Entlanghangeln an den Lebensdaten, den Ereignissen, im Aufzählen der Werke im Schaffenskontext …. und dann hat er  nach Stalins Tod 1953 seine 10. Sinfonie geschrieben. Nix da! Barnes macht das anders und bringt uns Schostakowitsch ganz nah, als Figur begreifbar, entschuldigt dabei nichts, aber erklärt mit klaren Linien künstlerische Existenz in einem irrational totalitären System. Drei Kopf-Bilder aus dem Text sind mir auch Monate, nachdem ich das Buch gelesen habe, optisch und emotional präsent: Die Verhaftungen durch die Geheimpolizei erfolgen nachts. Schostakowitsch will nicht überrumpelt, beschämt, erschrocken aus dem Bett geklingelt werden. Lange Zeit steht er mit einem gepackten Koffer neben dem Lift, Nacht für Nacht…Das ist mit fast kargen Worten so beschrieben, dass ich dieses bedrückende Bild nicht wieder loswerde. 1936 erscheint Stalin in der Oper, um das bis dahin staatlich akzeptierte Musikdrama „Lady Macbeth aus Mzensk“ von Schostakowitsch zu begutachten. Er verlässt nach der Pause das Theater, was einem tatsächlichen oder mindestens künstlerischen Todesurteil gleichkommt. Es folgt die Verbannung, klar, aber wie das geschildert ist: man kann es nachvollziehen, fühlen, anfassen, was das mit einem kreativen Menschen macht. Als Schostakowitsch als Mitglied einer sowjetischen Delegation in die USA reist, lässt Barnes seine Leser aus der Sicht des Komponisten den Schock über die oberflächliche Presse in einem freien Land und die Verweigerung seines Idols Strawinsky mit-empfinden. Und warum ich nun Monate, nachdem ich das Buch gelesen habe, sage: LESEN! Ich höre seine Musik und beginne sie zu verstehen (zum Beispiel Andris Nelsons, der seinem Schostakowitsch-Zyklus den bezeichnenden Titel „Under Stalin’s Shadow“  gab) und das ist definitiv Ergebnis dieser Lektüre. Julian Barnes, der Lärm der Zeit, Köln 2017