Gunnar Gunnarsson, Schwarze Vögel

Unbedingt lesen: Gunnar Gunnarsson, Schwarze Vögel, übersetzt nach der dänischen Erstausgabe unter Berücksichtigung der vom Autor später hergestellten isländischen Fassung und mit einem Nachwort versehen von Karl-Ludwig Wetzig, Ditzingen (Reclam) 2019 (zuerst 1929) Sehr spannend und informativ zu den isländischen Lebensverhältnissen. Das Nachwort bietet auch noch viel Background zu Gunnarsson.

Anne Siegel, Frauen, Fische Fjorde

Lesen: Außerdem großartig für etwas historischen Hintergrund: Anne Siegel, Frauen, Fische, Fjorde, Deutsche Einwanderinnen in Island. Wussten Sie, dass es 1949 eine Auswanderungsbewegung von deutschen Frauen nach Island gab? Sehr interessante Schilderung von 10 Schicksalen mit einem Vorwort von Kristin Steinsdottir (isländische Autorin).  

Anne Siegel, Wo die wilden Frauen wohnen

Unbedingt lesen: Anne Siegel, Wo die wilden Frauen wohnen, Islands starke Frauen und ihr Leben mit der Natur, München (Piper), 2020, 2. Auflage Darin 10 Kurzbiografien von Frauen, die die isländischen Lebensverhältnisse und den Stand der Emanzipation perfekt schildern. Ich kannte nur Björk (nicht wissend, dass sie Gudmundsdottier heißt), fand aber Hulda (Islandpferdesport), Hrefna (Geothermal-Ingenieurin) und Steinunn (Seefrau) viel spannender. Sehr viel Information über Island, die Lebensverhältnisse dort und die Frauen. Auch wirklich spannend zu lesen.  

Georgi Gospodinov, Zeitzuflucht (für Bilder bitte anklicken)

Oh, welch verführerischer Gedanke: Eine Klinik für Vergangenheit, in der Alzheimer-Erkrankte im für sie „richtigen“ Jahrzehnt landen. Richtig ist dasjenige, in dem sie jung waren, an das sie sich mit Hilfe der passenden Accessoires erinnern. Wenn sie in der Gegenwart nicht mehr zu Hause sind, dann in einer wieder-hergestellten Vergangenheit. Möbel, Gebrauchsgegenstände, Kultur (Musik der Zeit, Reprint-Zeitschriften), Politik, Gerüche, Esswaren … Seitdem ich alt bin, interessiert mich die Wahrnehmung von Zeit ungemein. Logisch, oder? Mit im Paket: Sehnsucht nach der Vergangenheit. Bei den Freunden im Bad nach dem uralten Rest Parfüm fahnden, nach der Pfütze der Sorte, die ich vor 40 Jahren trug. Überwältigung durch das Gefühl, halbwegs jung zu sein, gleichzeitig das Bedauern der Versäumnisse und Irrtümer vieler Jahre Leben. An diese Gefühle knüpft Zeitzuflucht unmittelbar an, schmeichelt sich bei mir ein, wird flott verschlungen, Begeisterung auch über die Erzählkonstruktion: Der Ich-Erzähler hat ein Alter Ego namens Gaustin. Geschildert zunächst als der Freund und Arzt, der in vielen Zeiten zu Hause ist, irgendwie fluide, dann diese Kliniken einrichtet, für die der Ich-Erzähler passende Artefakte sammelt. (Beim Aufräumen in der Wohnung unserer Mutter, nachdem sie mit 105 verstorben war, fanden wir im Wäscheschrank ein Stück Seife, das definitiv nach „1960“ roch. Welche Flut von Erinnerungen!) Zunehmend wird unklar, wer wen erzählt? Gustin das Ich? Das Ich Gaustin? Plötzlich wird mir klar, wie sehr ich diesem Erzähler auf den Leim gegangen bin. Hortet nicht jeder über 50 einen Vorrat an Vergangenheit, die wie die gute alte Zeit wirkt? Wie trügerisch. Die gibt’s ja gar nicht – und jeder, der sie uns verspricht, lügt. Das ist die Nachricht. Dieser Roman macht wirklich gründlich Schluss mit nostalgischen Gefühlen und Vorstellungen. Zunächst etwas irritiert, fasse ich zunehmend Lese-Mut und amüsiere mich köstlich über das ganze nostalgische Geplunder, das in den Reenactments auf grausige Weise vorgführt wird. Gospodinov holt eine Menge politisches Kaspertheater des 20. Jahrhunderts aus der Ecke, indem er den Vergangenheitsgedanken weiterspinnt: Immer mehr Menschen wollen in der Vergangenheit leben, die Staaten Europas entscheiden sich per Volksabstimmung für verschiedene Jahrzehnte, in die sie zurückkehren wollen. Die Wahlkämpfe vor den Abstimmungen zeigen den gesammelten Irrsinn der Vorstellung von „früher war alles besser“ auf. Es wird immer absurder. Es steht zu befürchten, dass wir es hier mit einer ganz treffenden Analyse der Gegenwart zu tun haben, die leider hochaktuell ist. Dieser Erzähler ist ein Verführer, der uns mit unseren eigenen nostalgischen Emotionen in eine Falle lockt, in der ich dann ebenso irritiert, amüsiert als auch düster saß. Und schlimmer: dann verschwindet er auch noch… wohin? Zum 1. September 1939? In sprachloses Vergessen? Wer erzählt hier wen? Toller Text, den man richtig erleiden muss! Lassen Sie sich darauf ein. Ich schau derweil mal weiter nach Gospodinov – und sage dann Bescheid, was ich finde… Die Länder des Ostblocks wählen 1989 als Wunschort für den Neustart: „Zu dieser Zeit gab es noch einen unantastbaren Vorrat an Zukunft, und wir teilten ihn mutig auf. Absolut naiv, wie man später sah.“ (Zeitzuflucht, S. 267)

Winnetou August von Theodor Buhl (für Bilder bitten anklicken)

Theodor Buhl, Winnetou August, Frankfurt am Main 2010 Diese Schilderung der Wirren des Kriegsendes aus der Sicht eines Achtjährigen gehört meiner Meinung (Danke für die Empfehlung, Claudia!) zum Unmittelbarsten, Berührendsten, was es zu diesem Thema zu lesen gibt. Leider ist der Text nicht sehr stark rezipiert worden, hat zum Zeitpunkt des Erscheinens (2010) nicht die Beachtung gefunden, die er verdient hätte. Diese unprätentiöse Art, über Schrecknisse zu berichten, ist geeignet, jeden und jede verstehen zu lassen, was Vertreibung bedeutet. Die Familie des Kleinen flieht vor der Roten Armee, kehrt auf der Flucht vor amerikanischen Bombardements wieder um und erlebt kreuz und quer durch Schlesien alle vorstellbaren Gräuel der Flucht. Der achtjährige Rudi erlebt diese Zeit als Schock und Abenteuer zugleich. August, sein Vater, ist für ihn eine Art Wunderfigur, wie anders sollte Rudi sonst auch psychisch überleben können? Durch seine Identifikation mit einer abenteuerlichen, scheinbar unverwundbaren Figur – Winnetou – schottet er sich gegen die Realität ab, gerät im Spiel dadurch aber auch in höchste Gefahr. Theodor Buhl hat hier aus seiner Erinnerung eine Figur geschaffen, die Kriegsterror unmittelbar für den Leser erstehen lässt, erklärt, wie Erinnerung entsteht und – kaum zu glauben – oft auch noch witzig wirkt. Leider ist Theodor Buhl am 8.4.2016 verstorben. Ich finde: Theodor Buhl hätte verdient, dass Sie endlich sein Buch lesen!