Tipp Nr. 18

Lesetipp 18: Poladjan, Hier sind Löwen Eine deutsche Buchrestauratorin mit armenisch-russischen Wurzeln reist auf Drängen ihrer Mutter (die sich dann aber merkwürdig indifferent zeigt) nach Jerewan, wo ihr eine alte Familienbibel zur Restauration in die Hände fällt. Erzählt wird in einer zweiten Ebene die Geschichte der Kinder Anahid und Hrant, die mit dieser Bibel während des armenischen Genozids vor den Türken fliehen. Beide Geschichten werden ohne emotionale Wucht (die sich anbieten würde) in einander verwoben erzählt. Die junge Frau, die sich in der armenischen Hauptstadt auf eine Affäre einlässt und durch unterschiedlichste Freunde viel über die armenische Lebensrealität erfährt, wird durch die Arbeit am Evangeliar immer wieder in die historische Dimension gezogen. Dadurch entsteht der Wunsch nach der Klärung der eigenen Familiengeschichte (den die Mutter verwehrt) und damit nach der Frage, auf welche Weise die Vergangenheit in die Gegenwart ragt. Lesen? Unter bestimmten Umständen: Ja! Die Umstände sollten sein: Interesse an armenischen Themen, ein bisschen Toleranz gegenüber der Erzählerin, die sehr viel Informationen über dieses ebenso wunderbare wie geschundene Land in eine sehr vielschichtige Torte gebacken hat. Und: Als Vorbereitung zum Besuch des Matenadaran (Zentralarchiv für alte armenische Handschriften in Jerewan) und Armeniens geradezu ein Muss! Katerina Poladjan; Hier sind Löwen, Frankfurt/Main 2019   Einband des Etschmiadsin-Evangeliar, 6. Jh.

Tipp 17: Wenn wir zum Ende kommen

„Es war im letzten Jahr, in einem Monat des Frühjahrs, mitten am Tag, als mir plötzlich bewusst wurde, dass ich nicht ewig leben werde. Das ist natürlich nicht besonders originell…“ (Endlich, S. 37) Dieses Buch beginnt mit dem Vorwort der Bereichsleiterin der Städtischen Friedhöfe Hannover und dem Bekenntnis von Kersten Flenter: „Ich mag Friedhöfe!“ Ich auch. Und ich mag dieses Buch, es hat mich das ganze letzte Jahr begleitet. Ich habe es letztes Jahr zum Geburtstag geschenkt bekommen und meine Tochter Biena Monecke glaubte sich wegen des Sujets und des Zusammenhangs ein wenig entschuldigen zu müssen. Aber das passt doch genau: Am Geburtstag ist wieder ein Jahr gelebtes Leben vorbei. Meine Leser und ich sind Texte zum Thema Tod außerdem gewöhnt (WAS ABER…), er gehört zum Leben dazu und diejenigen, die diese Tatsache am heftigsten vor sich selber verbergen, haben die größte Angst vor seiner Endgültigkeit. Diese Textsammlung von kurzer Prosa und Gedichten, schlüssig und schön illustriert von Biena Monecke, gibt ihren Lesern eine Chance sich mit Melancholie, Ironie, Nachdenklichkeit dem Thema zu nähern. Oft muss man lächeln, manchmal sogar lachen in vollem Ernst. Die Gefühle bleiben auf unnachahmliche Art und Weise in der Schwebe, es gibt die Chance sich selber zu treffen mit all seinen Ängsten, Zweifeln, verborgenen Gefühlen und seinem Spaß am Leben und seinem Wissen um das Ende. Ich habe in meinem 69. Lebensjahr immer wieder darin gelesen und werde es im 70. auch nicht ganz zur Seite legen. „Zeit und Trauer sind Freunde. Das Gras leuchtet jeden Tag in einem anderen Grün. Mehr müssen wir über den Tod nicht wissen.“ (S. 72) Lesen Sie das! Sie erfahren viel über sich selber. Auch wenn Sie vielleicht noch nicht 70 werden! Kersten Flenter /Biena Monecke, Wenn wir zum Ende kommen, Texte und Zeichnungen, Helmstedt 2018 (Blaulicht Verlag) Texte und Zeichnungen über Friedhöfe und Tode, Trauern und Abschied nehmen. Mit einem Vorwort von Cordula Wächtle

Tipp 16: Barnes, Der Lärm der Zeit

Ein Buch mit Folgen: Lesen, um den Komponisten zu verstehen, seine Musik, Lesen als Vergnügen. Geht doch. Bei Barnes läuft alles das ineinander. So manche Künstlerbiografie versandet im Entlanghangeln an den Lebensdaten, den Ereignissen, im Aufzählen der Werke im Schaffenskontext …. und dann hat er  nach Stalins Tod 1953 seine 10. Sinfonie geschrieben. Nix da! Barnes macht das anders und bringt uns Schostakowitsch ganz nah, als Figur begreifbar, entschuldigt dabei nichts, aber erklärt mit klaren Linien künstlerische Existenz in einem irrational totalitären System. Drei Kopf-Bilder aus dem Text sind mir auch Monate, nachdem ich das Buch gelesen habe, optisch und emotional präsent: Die Verhaftungen durch die Geheimpolizei erfolgen nachts. Schostakowitsch will nicht überrumpelt, beschämt, erschrocken aus dem Bett geklingelt werden. Lange Zeit steht er mit einem gepackten Koffer neben dem Lift, Nacht für Nacht…Das ist mit fast kargen Worten so beschrieben, dass ich dieses bedrückende Bild nicht wieder loswerde. 1936 erscheint Stalin in der Oper, um das bis dahin staatlich akzeptierte Musikdrama „Lady Macbeth aus Mzensk“ von Schostakowitsch zu begutachten. Er verlässt nach der Pause das Theater, was einem tatsächlichen oder mindestens künstlerischen Todesurteil gleichkommt. Es folgt die Verbannung, klar, aber wie das geschildert ist: man kann es nachvollziehen, fühlen, anfassen, was das mit einem kreativen Menschen macht. Als Schostakowitsch als Mitglied einer sowjetischen Delegation in die USA reist, lässt Barnes seine Leser aus der Sicht des Komponisten den Schock über die oberflächliche Presse in einem freien Land und die Verweigerung seines Idols Strawinsky mit-empfinden. Und warum ich nun Monate, nachdem ich das Buch gelesen habe, sage: LESEN! Ich höre seine Musik und beginne sie zu verstehen (zum Beispiel Andris Nelsons, der seinem Schostakowitsch-Zyklus den bezeichnenden Titel „Under Stalin’s Shadow“  gab) und das ist definitiv Ergebnis dieser Lektüre. Julian Barnes, der Lärm der Zeit, Köln 2017

Tipp 15, Oboenmusik (also Ge-hört)

Mal zwischendrin: Eine Hör-Empfehlung! Albrecht Mayer, Vocalise, DG 2016 China-Air sei Dank! So ein Flug von Taipeh nach Frankfurt dauert 13 Stunden 40 Minuten. Das Medienangebot war gut. Da ich aber keine Filme gucke und irgendwann zu müde zum Lesen wurde, hörte ich mein übliches Repertoire von Chopin, Brahms, Mozart und Co schon mehrfach. Auf der Suche nach Neuem fand ich eine CD von Albrecht Mayer, Oboist der Berliner Philharmoniker. Eine Repertoire-Kollektion stellte ich voller Misstrauen fest, denn ich mag keinen Klassik-Eintopf. Aber Mayer hat mich mit seiner Auswahl so gefangen, dass ich die um 4.30 Uhr servierte warme gefüllte Teigtasche (!!) von China Air beinahe verschmäht hätte. Schmeckte aber wunderlicher Weise sehr gut. Die Auswahl, die Mayer da gewagt hat, ist sehr gefällig, aber überhaupt nicht kitschig oder sentimental: Händel, Ravel, Schumann, Fauré, Mozart, Bach, Debussy, Humperdinck, Vivaldi, Marcello, Hahn, Weismann. Zum Wegschmelzen, trotzdem nicht dick aufgetragen, gut arrangiert, angenehm runder, voller Oboenklang. Der Titel? Eine Zusammenstellung persönlicher Lieblingsstücke von Mayer, die besonders die „sanglichen“ Eigenschaften seines Instruments hervorheben. Ausdrückliche Empfehlung! Albrecht Mayer, Vocalise, DG 2016 (Danke, China-Air!)  

Tipp 14, Vicky Baum, Liebe und Tod auf Bali

Gut also, man muss ja nicht gleich nach Bali fahren, um diesen Roman zu lesen. Ich besorge mir immer passend zur Reise dieses und jenes für meinen E-Reader (Gewicht sparen!) und bin in diesem Fall ganz froh, dass ich mich nicht von den Kassandrarufen „Unterhaltungsliteratur“ einiger Rezensenten abschrecken ließ. Der Roman ist 1937 nach einem mehrmonatigen Aufenthalt der reiselustigen Autorin auf dem damals noch völlig unerschlossenen Bali entstanden. Sie hat offenbar exzellent recherchiert und erzählt mit großer Präzision und Einfühlung die Geschichte der Menschen auf Bali zu Beginn des letzten Jahrhunderts. Man erfährt sehr viel über Sitten und Gebräuche und das Lebensverständnis der einfachen Reisbauern, aber auch des Adels, insbesondere des Raja, des Herrschers des Königreichs Badung (heute Denpasar). Das ist alles sehr spannend und interessant aufgeschrieben. Ich bin nur einmal eingeduselt, am Strand von Bali liegend: Die Geschichte mit den Kampfhähnen fand ich etwas ermüdend, es war allerdings auch ganz schön warm…Die Schilderung des „Puputan“, dem Massenselbstmord von 1906, ist allerdings dann wieder ungeheuer fesselnd aufgeschrieben, weil der Leser eine Chance hat, die Geschichte „von innen“ zu verstehen durch den Wechsel zwischen der Innenperspektive eines jungen holländischen Offiziers und der Balinesen. Das ist auch erzählerisch richtig gut gemacht. Vicky Baum war eine Vielschreiberin, mancher Text von ihr mag als trivial gelten (sie schrieb einen Bestseller nach dem anderen, und was mögen die Leute???), aber dieser Roman ist meiner Meinung nach eine Wiederentdeckung wert. Falls Sie keine E-Books mögen: Den Roman gibt es auch (wieder) als Paperback: Vicky Baum, Liebe und Tod auf Bali, 1937