Tipp Nr. 18

Lesetipp 18: Poladjan, Hier sind Löwen Eine deutsche Buchrestauratorin mit armenisch-russischen Wurzeln reist auf Drängen ihrer Mutter (die sich dann aber merkwürdig indifferent zeigt) nach Jerewan, wo ihr eine alte Familienbibel zur Restauration in die Hände fällt. Erzählt wird in einer zweiten Ebene die Geschichte der Kinder Anahid und Hrant, die mit dieser Bibel während des armenischen Genozids vor den Türken fliehen. Beide Geschichten werden ohne emotionale Wucht (die sich anbieten würde) in einander verwoben erzählt. Die junge Frau, die sich in der armenischen Hauptstadt auf eine Affäre einlässt und durch unterschiedlichste Freunde viel über die armenische Lebensrealität erfährt, wird durch die Arbeit am Evangeliar immer wieder in die historische Dimension gezogen. Dadurch entsteht der Wunsch nach der Klärung der eigenen Familiengeschichte (den die Mutter verwehrt) und damit nach der Frage, auf welche Weise die Vergangenheit in die Gegenwart ragt. Lesen? Unter bestimmten Umständen: Ja! Die Umstände sollten sein: Interesse an armenischen Themen, ein bisschen Toleranz gegenüber der Erzählerin, die sehr viel Informationen über dieses ebenso wunderbare wie geschundene Land in eine sehr vielschichtige Torte gebacken hat. Und: Als Vorbereitung zum Besuch des Matenadaran (Zentralarchiv für alte armenische Handschriften in Jerewan) und Armeniens geradezu ein Muss! Katerina Poladjan; Hier sind Löwen, Frankfurt/Main 2019   Einband des Etschmiadsin-Evangeliar, 6. Jh.

Weihnachtswahnsinn tobt schon ab September

Weihnachtswahnsinn im September! Anfang September: Ein kleine Reise in die holländische Nachbarschaft, um Blumen zu kaufen… Dass man um diese Zeit schon den obligaten Weihnachtsbaum mit weißen Flügeln, weißen Engeln, Federn, Rosen, Einhörnern, Pferden, Eulen…findet, na gut. Daran hat man sich ja schon etwas gewöhnt. Das Personal, das an diesem Baum hängt (Schimmel und weiße Eule?) erschließt sich mir allerdings nicht so recht. Ich kann zu meiner Schande auch gar nicht behaupten, besonders religiös zu sein, aber, was mir dann vor die Augen kommt, macht mich doch einigermaßen ratlos. Weihnachten ist ja immer lieblicher geworden, sentimentaler und inhaltslos…Goldengel mit Geige, da kann man ja noch einen Zusammenhang zur Ursprungsidee erkennen. Was dann alles so kommt… MEIN LIEBER OLLO! Das finde ich nun doch etwas …gewöhnungsbedürftig, um höflich zu bleiben. Da ist Weihnachtsschmuck mit Gruseleffekt, mit in Styropor und Glitter gefassten intelligenten Lautäußerungen („HoHoHo“) ! und Kleinmöbel mit Goldbeinen. Besonders gelungen finde ich die Königsmaus mit Säbel und goldenen Stiefeln. Auch da habe ich wieder gedankliche Schwierigkeiten mit dem Personal. Kommt vielleicht in der Weihnachtsgeschichte eine royale Maus vor, die mir entgangen ist? Einer der Heiligen Drei Könige etwa? Besonders beim Säkularisierungsprozess sind hier von der Fertigung her Nägel mit Köpfen gemacht worden: Der Weihnachtsmann kommt einmal mit Bierkrügen a la Oktoberfest, als sonnenhungriger Cocktailtrinker und …. nochmal MEIN LIEBER OLLO! …mit der Versicherung „I believe in wine“ (ich glaube an Wein!) daher. Eigentlich war ich jetzt der Überzeugung, mich könne nichts mehr erschüttern, aber auch der moralische Aspekt des Festes wird feinfühlig ins Visier genommen: Leichtbekleidete Damen versichern Santa Claus, sie könnten ihre Verfehlungen erklären („Dear Santa, I can explain“), hätten sich zwischen böse oder brav noch nicht so recht entschieden („naughty or nice“), würden aber auf jeden Fall nächstes Jahr -versprochen! – ein ordentliches Leben führen („I’ll be good next year“). Auch Tierfreunde werden mit geschmackvollen Dekorationsartikeln bedient. Der Hund mit bunt beleuchtetem Knochen ist einfach herzig und die Katze mit Weihnachtmütze und sentimentalem Blick lässt doch einfach Herzen höher schlagen. Weihnachtswahnsinn pur! Ich bin schwer beeindruckt und hoffe bis 24. Dezember den Schock überwunden zu haben.  

Als Photoshop noch nicht erfunden war…

Als Photoshop noch nicht erfunden war, ging auch schon etwas. Diese Foto ist etwa 1916 aufgenommen. Der Hausherr war im Krieg, wurde kurzerhand durch einen Mann gleicher Größe ersetzt und dann sein Kopf, sorgfältig aus einem anderen Foto ausgeschnitten, auf den Korpus geklebt. Zu sehen gibt es dort also die komplette Familie. Christian Barkey hat das Bild mit seiner Frau Auguste und seinen 10 Kindern dann vermutlich später mit ins Feld  genommen. Und er gehört zu den Glücklichen, die – zwar mit Erfrierungen –  aus diesem Krieg zurückkamen, so dass er sich um seine Kinder kümmern konnte. Eine der abgebildeten Personen (Alwine, 2. vorne links, mit dem Propeller) lebt und hat gerade noch einmal erzählt, warum sie hier so muffig schaut: Zunächst hatte der Fotograf ihr ein Fußbänkchen gegeben, ihr das dann aber wieder weggenommen. Ihre älteren Geschwister haben ihr diese Geschichte erzählt. Der Besuch beim Fotografen war übrigens für alle Beteiligten eine Strapaze: Ein sehr langer Fußmarsch aus Oberholsten nach Melle…Und das ist Alwine  – unsere Mutter – gute 100 Jahre später, ziemlich bequem von ihrer jüngsten Tochter mit dem Handy aufgenommen am 2.2.2018:      

Nepal 2076 (April 2019) (für Bilder: anklicken)

Geschüttelt und gerührt: Reiseimpressionen Nepal „Geschüttelt, nicht gerührt“, gilt als eines der bekanntesten Filmzitate. Wir erlebten Nepal geschüttelt UND gerührt. Geschüttelt: Es gibt in Nepal 3 Arten von Straßen: Schlechte, sehr schlechte und besonders schlechte. So eine Rundreise schüttelt einen ordentlich durch. Ich hatte nach einer Zeit eine Technik entwickelt (Nackenhörnchen, Musik in den Ohren und bei Bergstraßen den Blick streng auf die Botanik der Böschung gerichtet, ab und zu einen Schwenk auf die atemberaubend schöne Landschaft wagen). 170 km können so leicht zur Tagesreise werden, in und um Kathmandu kommen gerne noch ein paar Staus hinzu. Gerührt: Trotzdem keinen Moment die Reise bereut, ganz oft gerührt von so viel Schönheit der Landschaft, der Architektur, der Liebenswürdigkeit der Menschen. Diese Menschen sind bei allem Elend so freundlich, so offen und fröhlich, dass es einem manchmal geradezu den Atem verschlägt. Sushil, unser toller Reiseleiter, ließ keinen Zweifel daran, dass er den Tourismus für einen Baustein zur Rettung der Nepalesen hält. Dieses kleine Land, eingeklemmt zwischen und drangsaliert von Indien und China braucht Hilfe. Tourismus könnte ein Element sein, Hilfen zum Wiederaufbau nach dem verheerenden Erdbeben von 2015 sieht man an vielen Stellen, aber das wird nicht reichen. Also bitte: Nach Nepal reisen! Sushil und ich empfehlen es deswegen und für eine andere Sicht auf die Welt!

Tipp 17: Wenn wir zum Ende kommen

„Es war im letzten Jahr, in einem Monat des Frühjahrs, mitten am Tag, als mir plötzlich bewusst wurde, dass ich nicht ewig leben werde. Das ist natürlich nicht besonders originell…“ (Endlich, S. 37) Dieses Buch beginnt mit dem Vorwort der Bereichsleiterin der Städtischen Friedhöfe Hannover und dem Bekenntnis von Kersten Flenter: „Ich mag Friedhöfe!“ Ich auch. Und ich mag dieses Buch, es hat mich das ganze letzte Jahr begleitet. Ich habe es letztes Jahr zum Geburtstag geschenkt bekommen und meine Tochter Biena Monecke glaubte sich wegen des Sujets und des Zusammenhangs ein wenig entschuldigen zu müssen. Aber das passt doch genau: Am Geburtstag ist wieder ein Jahr gelebtes Leben vorbei. Meine Leser und ich sind Texte zum Thema Tod außerdem gewöhnt (WAS ABER…), er gehört zum Leben dazu und diejenigen, die diese Tatsache am heftigsten vor sich selber verbergen, haben die größte Angst vor seiner Endgültigkeit. Diese Textsammlung von kurzer Prosa und Gedichten, schlüssig und schön illustriert von Biena Monecke, gibt ihren Lesern eine Chance sich mit Melancholie, Ironie, Nachdenklichkeit dem Thema zu nähern. Oft muss man lächeln, manchmal sogar lachen in vollem Ernst. Die Gefühle bleiben auf unnachahmliche Art und Weise in der Schwebe, es gibt die Chance sich selber zu treffen mit all seinen Ängsten, Zweifeln, verborgenen Gefühlen und seinem Spaß am Leben und seinem Wissen um das Ende. Ich habe in meinem 69. Lebensjahr immer wieder darin gelesen und werde es im 70. auch nicht ganz zur Seite legen. „Zeit und Trauer sind Freunde. Das Gras leuchtet jeden Tag in einem anderen Grün. Mehr müssen wir über den Tod nicht wissen.“ (S. 72) Lesen Sie das! Sie erfahren viel über sich selber. Auch wenn Sie vielleicht noch nicht 70 werden! Kersten Flenter /Biena Monecke, Wenn wir zum Ende kommen, Texte und Zeichnungen, Helmstedt 2018 (Blaulicht Verlag) Texte und Zeichnungen über Friedhöfe und Tode, Trauern und Abschied nehmen. Mit einem Vorwort von Cordula Wächtle