Der lange Abschied der Alwine P. (für Bilder: anklicken)

Der lange Abschied der Alwine P. – Ein Text zum Tod unserer Mutter, die 105 Jahre alt wurde

Alwine mit Katzen und Sohn, etwa 1938

Unsere Mutter lebte in ihrer Wohnung in der Ludwigstraße in Lingen bis sie 103 Jahre, 6 Monate und  19 Tage alt war. Sie starb mit 105 Jahren, 5 Monaten und 6 Tagen. Was geschah in den 23 Monaten und 12 Tagen dazwischen? Jeden Tag etwas anderes und dabei doch vieles unter dem Thema Sterben und Abschied nehmen.

Ins Heim: Die Kasernierung fiel ihr nicht leicht.

Zuvor hatte sie 56 Jahre selbstbestimmt und allein in ihrer Wohnung gelebt, unser Vater starb 1960. Was macht es mit einem Menschen, der so lange seine Tage mit einer heißen Dusche, einem ebenso heißen Kaffee und der Zeitung begonnen hatte, wenn er sich plötzlich in einen von anderen bestimmten Tagesablauf mit lauwarmem -ihre Empörung war abgrundtief!-  Kaffee zu unterschiedlichen Tageszeiten gepresst sieht. Duschen nur einmal in der Woche- Badetag.

Unsere schwachen Versuche, ihr Sozialkontakte zu anderen alten Menschen in dem Heim zu vermitteln, scheiterten kläglich. Als ich sie einmal sehr lange bedrängte, doch wenigstens zum Essen in den Speisesaal zu gehen und bat, nun endlich die Gründe für ihre Ablehnung zu nennen, beendete sie das Ganze mit dem barschen Bescheid: „Ich will das ganze Elend einfach nicht sehen!“ Das war ohne Zweifel so arrogant wie verständlich, wenn man den Umgang mit den Menschen, die man sehen will, so lange selbst bestimmen konnte.

Ich ging schwer in mich und dachte an meine scharfe Ablehnung jeglicher „Ghettos“, wie ich sie gedanklich nenne: Altenverein, Frauenclub, Seniorenkarneval…

Ich habe sie danach nicht mehr gefragt, ob sie „aktiviert“ werden möchte, so nannten die Altenpfleger*innen es, wenn sie alte Menschen in Rollstühlen in der Eingangshalle den Blicken aller Hereinkommenden aussetzten. Ich mochte das auch nicht, so gut es gemeint sein mag. Ich habe mich beim Betreten des Heimes immer ein wenig geschämt, wenn unter den dort Anwesenden schlafende, geistig abwesende hilflose Menschen ausgestellt wurden. Ich fand sie wie nackt, ihrer Würde beraubt und konnte gut verstehen, dass unsere Mutter, die das empfand und auch rational bearbeiten konnte, so etwas scharf ablehnte. Alt sein hieß in ihrem Fall lange Zeit noch, dass sie solche Dinge einschätzen konnte und wollte. Die Pfleger*innen machten nach einiger Zeit auch keine Versuche mehr in diese Richtung.

2.2.2018

Sie verbrachte einige Wochen im Widerstand gegen die Verhältnisse im Heim. Da ich keine Alternativen sah, versuchte ich zu kompensieren, was nur ging. Es trat ein Effekt ein wie bei einem verwöhnten Kind, sie wurde etwas mäkelig und anspruchsvoll, war auch manchmal ungerecht gegenüber den Pfleger*innen, die sie der Unfähigkeit oder Unfreundlichkeit bezichtigte. Der Prozess der Hospitalisierung schritt aber voran und sie fühlte sich zunehmend gut aufgehoben in dieser Fürsorge, die ihr im Leben ja noch niemals in dieser umfassenden Form zugekommen war. Wir Töchter waren erfreut und manchmal auch erstaunt, dass sie zunehmend Zärtlichkeit annehmen und auch geben konnte. Das war ihr immer schwergefallen, sie hatte sich so viele Jahre allein mit einem ordentlichen Sozialpanzer aus vorgeschützter Robustheit  durchs Leben gekämpft und so manchen auch mal ordentlich vor den Kopf gestoßen.

Aber: Sie unterschied. Wo sie Zuwendung bekam, war sie freundlich und offen, bedankte sich für jede Dienstleistung, verlor ihre Giftigkeit, die sie früher oft gezeigt hatte gegen Menschen, die ihr nicht gefielen.

Und: So ein Altenheim steht und fällt mit dem Personal, das dort arbeitet. Viele waren so authentisch und voller Zuwendung, dass ich oft mit Bewunderung zuschaute. Von einigen aber sagte sie: „Heute hat mich die gewaschen, die mich wie einen Schrank behandelt.“ Oder: „Die hat gar kein Gefühl für Menschen“. Solche Äußerungen erklärte sie auf Nachfrage genau: Pflegende, die sich während der Arbeit über ihren Kopf hin intensiv über andere Dinge unterhielten, fand sie „unanständig“. „Die müssen mich ja nicht lieben, aber ich bin doch noch da!“

Gleichzeitig begann sie zu klagen, „der da oben“ habe sie vergessen. Sehr oft tauchte sie in die Vergangenheit ein, ihre Kindheit als neuntes von zehn Kindern auf einem kleinen Gehöft im Meller Land wurde wieder und wieder zum abendlichen Thema. Dazwischen oft ein verzweifeltes „Warum?“, auf das wir ihr keine Antwort geben konnten und ein „Und ich liege hier“ auf Todesnachrichten aus der Familie oder dem Bekanntenkreis.

Zwischendurch hat sie Phasen mit Halluzinationen, spricht viel vom Tod. „Guck mal, da laufen sie übers Feld. Die werden sich schön den Sand in die Schuhe treten“. Dann: „Wo sind eigentlich meine Kackschuhe?“ (scherzhaft von ihr für ihre Lackschuhe) Ich erkläre, die  stehen im Schrank und sie ist plötzlich völlig orientiert. „Ich habe gesehen, meine Unterwäsche ist zerschlissen. Es wird also Zeit zu gehen.“

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Im Sommer fängt sie an immer wieder ihren Tod anzukündigen: „Legt mich mal schön hin“, zu der Pflegenden und mir. „Ich möchte nämlich die nächsten zwei Tage sterben.“ Zu mir: „Wir sehen uns Morgen oder da oben“. Auf meine Einlassung, das sähe schlecht aus in meinem Fall mit „da oben“, „ach, ich nehm‘ dich einfach mit“. Aber auch: „Ich muss ja wohl richtig viel in meinem Leben falsch gemacht haben, dass ich hier immer noch liegen muss.“

Im September versöhnt sie sich zeitweise mit ihrer Situation: „Ich möchte nochmal sagen, dass es mir doch richtig gutgeht. Es gibt so viele alte Menschen, denen geht es nicht wie mir. Früher schon gar nicht. (erzählt vom Krieg) Ich bekomme gutes Essen, habe ein warmes Bett, werde regelmäßig sauber gemacht und umgelegt (bei dem Wort schmunzelt sie über die Doppeldeutigkeit). Und die meisten Pflegekräfte sind auch nett.“ Sie fragt die erscheinende Pflegerin: „Und was wünschen Sie jetzt?“ „Ich möchte so alt werden wie Sie“, antwortet sie. „Ach, ob man sich das wünschen sollte… Aber Sie sind nett zu mir, die meisten hier sind nett zu mir, das wollte ich noch sagen.“ Die Pflegerin schaut etwas gerührt und Alwine sagt mit Nachdruck: „Heute ist nämlich Sterbetag!“ Sie stirbt 41 Tage später.

Zwischendrin ist sie immer wieder so schwach, dass man  ihre Ankündigungen für realistisch hält. Dann aber sitzt sie morgens im Bett und verkündet mit kräftiger Stimme: „Ein schöner Kaffee, das wär‘ jetzt was!“

Die Kräfte lassen aber kontinuierlich und wie in Wellen nach. Es dauert lange, bis ich den Gedanken zulassen kann, es sei das Beste für meine Mutter und mich, wenn sie stirbt. Manchmal, wenn ich bei ihr sitze, scheint der kleine blaue Wecker auf ihrem Nachttisch immer lauter zu ticken und ich denke: „Das ist auch deine Lebenszeit, die da verrinnt“. Auf jeden Fall ist es ein Gewinn, ein Gefühl für die eigene Endlichkeit zu bekommen, aber der Preis ist hoch.

Ende Oktober sagt sie: „Ich habe da jetzt immer so eine Hecke gegenüber. Die hat ein Loch, durch das man durchkann, ich kann es aber nicht finden.“ Am 3. November hat sie es gefunden.

„Schlaf schön, mein altes Mädchen“, habe ich jeden Abend zu ihr gesagt…

Foto: Julia Anthony