Marion Poschmann, Chor der Erinnyen (für Bilder bitte anklicken)

Marion Poschmann, Chor der Erinnyen (2023)

Zugegeben: Zuerst habe ich den Roman ein paarmal nach links gelegt, um etwas anderes zwischendrin zu lesen. Zu viel Geraune, Gedichte, zu viel hoher Ton. Später hatte ich so viel Spaß an der Beschreibung der Figuren und Umstände, dass ich mich beim Lesen ungeheuer amüsiert habe.

Diese „Sorte“ Frauen, wie Birte, Mathilda, Olivia macht mich lachen und grausen zugleich. Das ist so gut beschrieben! Und schließlich (was selten geschieht): Ich lese den Text direkt noch einmal!

Also von vorne: Das Motto auf dem Vorsatzblatt ist von Annette von Droste-Hülshoff, es sind die zwei Schlussverse des Gedichts Am Turme. Davor ist dort zu lesen: Wär ich ein Mann doch mindestens nur/ So würde der Himmel mir raten/nun muss ich sitzen so fein und klar/und darf nur heimlich lösen mein Haar/und lassen es flattern im Winde.

Neben dem belämmerten Schicksal der Autorin, die nicht besser sein darf als ihre männlichen Verwandten, die ihr Talent und ihre Lebensvorstellungen höchstens mal verschämt und in aller Heimlichkeit ausleben kann…wen haben wir denn da? Mathilda vielleicht?

Der Roman umfasst als erzählte Zeit 8 Tage parallel zu dem Verschwinden ihres Gatten Gilbert (Geschildert in den Kieferninseln).

Haupt-Personal: Mathilda, Gymnasiallehrerin für Mathematik und Musik; Birte, ihre Kindheitsfreundin, Inhaberin eines verschuldeten alternativen Cafés; Olivia, Studienfreundin, Archäologin mit einer gediegenen Moulagensammlung (=lebensgroße Abformungen von Körperteilen); Roswitha, Mutter von Mathilda (hat „Ahnungen“), Vater von Mathilda (hat die letzten Bergwerke abgewickelt und Angst vor den Visionen seiner Frau: „Wir hätten Birte nicht hereinlassen sollen“, sagte der Vater. Das hat alles wieder aufgerührt.“). Nebenpersonen, die zweimal auftauchen: ein Pekinese (Hund, der am Ende immer löwenähnlicher und damit zum chinesischen Wächterlöwen wird) mit einem Mädchen mit blauem Irokesenhaarschnitt.

Warum ich zweimal ansetzten musste: Da ist zum Beispiel so eine Stelle am Schluss, wo mir die Angelegenheit doch arg mythologisch aufgeladen scheint. Ein blöder kleiner Hund als „Hüter der geheimen Kräfte des Universums“? na meinetwegen…

Aber weiter von vorne: Fangen wir doch mal beim Titel an. Erinnyen gibt es drei (Alekto, Megaira, Tisiphone). Sie stellen personifizierte Gewissensbisse (Mathilda!) dar, gelten als Vertreterinnen mutterrechtlicher Prinzipien (Roswitha und die Mutter-ferngesteuerte Mathilda!), sie stehen in Zusammenhang mit Totenkult (Olivia!). Birte, die in Mathilda und ihrer Familie alte Schuldgefühle am Köcheln hält, kann gut als Rachegöttin durchgehen.

Olivia und Birte, beide aus begütertem Hause, können getrost als komplett gescheiterte Existenzen angesehen werden. Bleibt Mathilda als Mittelschichtkind, Hoffnung der Eltern, begabt und bereit, immer alle Schuld auf sich zu nehmen. Von Mama hat sie gelernt, dass es schützt, wenn man seine Fähigkeiten verdeckt nutzt (gelingt bei Birte, die auch noch ein bisschen blöd ist, gar nicht), seine Emotionen gut in Form frisiert (ihre Mutter trägt immer noch so eine 60er-Jahre Betonhochfrisur!) und unter dem Radar des Neids ihrer Umgebung lebt. Dabei ist Mathilda wohl der Kontakt zu ihren eigenen Emotionen flöten gegangen. Sie lebt in einem Panzer von Pflichterfüllung, Affektabwehr und Unterwürfigkeit aus nur schlecht verwalteten Schuldgefühlen.

Ihr abwesender Mann (wir wissen, dass er sich in Japan mit Tamagotchi herumtreibt) wird aus ihrer Innen-Perspektive als muttergesteuertes Ego beschrieben, das ihr Leben bis zur Auswahl der dysfunktionalen Möbel und Gebrauchsgegenstände (Telefon) bestimmt. Zudem glaubt er, seine Position als Mann des Hauses, der sich generell zu etwas Höherem berufen fühlt, durch Dozieren über Gott, die Welt und Bärte festigen zu müssen. Mathilda lässt ihn reden, weil sie weiß, dass er durch das Vorspielen ausgemachter Kennerschaft die Tatsache überspielen muss, dass hauptsächlich sie das Geld nach Hause bringt.

Das und vieles andere ist so wunderbar gehässig und genau beobachtet, dass es wohl wenige Frauen gibt, die nicht an der einen oder anderen Stelle „jau genau!“ denken würden.

Jede kennt so eine Birte, die an unpassender Stelle uns den Dolch des Ökogewissens in den Rücken rammt, so eine spinnert esoterisch einher brabbelnde Olivia (gut auch als „Coach für Hinterbliebene“), eine be- und verfilzte Kunstlehrerin (die, so Mathildas Verdacht, sich im Unterricht gemütlich die Nägel feilt), eine Mittelschichtmutter mit aseptischem Haushalt, permissive oder übergriffige Mütter mit unbeleckt von erzieherischen Impulsen aufwachsender unbeherrschbarer Brut …

Zudem: Der ganze Reichtum an mythischen Motiven (Füße, Krallen, Wettermetaphern, Feuer), komischen Gruseleffekten (das Herz, das per Post verschickt wird) und ironischer Darstellung von Unterricht („Als Musiklehrer konnte man nur leben, wenn einem Musik nichts bedeutete“) soll hier nicht aufgezählt werden. Lesen Sie doch selbst!

Und Mathilda?

Die Autorin lässt sie über die Identifikation mit Wetterphänomenen zeitweilig zu sich selbst finden. Sie löst sich auf in ihrer Subjektivität und scheint Teil der natürlichen Umgebung zu werden. Sie folgt dem Wind, wird am Ende konsequenter Weise: Sturmtief Mathilda!

 

Toll! – Und gleichwohl: mit den Gedichten am Ende einiger Kapitel hadere ich noch ziemlich und manches ist mir zu viel esoterisches Geraune. Vielleicht bin ich ja mehr so ein rational-abwehrender Typ Frau wie Mathilda?

Frau Poschmann, jetzt aber mal im Ernst: Sie werden mich doch nicht zwingen, den Roman ein drittes Mal zu lesen!? Ein Hintertürchen zum Weiterschreiben haben Sie sich ja mit dem Indian Summer gelassen, wo Gilbert und Mathilda wieder zusammenkommen könnten. Ach bitte, schreiben Sie das unbedingt auf!

momo