Tipp 10: Alles von Ralf Rothmann

Einen Autor „verkehrt herum entdecken“. Eigentlich zunächst ein Zufall. 2009 regelrecht über „Feuer brennt nicht“ von Ralf Rothmann gestolpert, weil die DDR-Thematik mich interessierte: Ein Ehepaar zieht 20 Jahre nach der sogenannten „Wende“ an den Müggelsee. Die Beschreibung der Befindlichkeit von Wolf, einem alternden Schriftsteller und einer sich entwicklenden Dreiecksgeschichte ist mit so beiläufiger Lakonie geschildert, dass der Ton, den Rothmann anschlägt, mich völlig gefangen genommen hat. „Diese Fähigkeit, dichte Atmosphäre mit kargen Mitteln zu erzeugen, hat der Autor doch sicherlich schon länger kultiviert, die ist nicht neu!“,  dachte ich und fing an der Reihe nach (jetzt richtig herum), alles von ihm zu lesen.

Tipp 9: Björn Kuhlig, Großraumtaxi

Etwas für zwischendurch: Berliner Szenen, zum großen Teil als Taz-Kolumnen erschienen. Wer irgendeine Bindung zu Berlin hat oder haben möchte, wird die kurzen Texte mögen. Gezeigt wird eine Stadt der stillen Helden, der Kellner, Bettler, Tankstellenwarte und Zeitungszusteller. Die Episoden machen schmunzeln, manchmal auch lachen, innehalten, wirken oft beiläufig bis banal und sind gerade deswegen lebendig. Oft genug auch mit einem Hauch Melancholie unterlegt, denn gezeigt werden nicht die Hippen, sondern die Schrägen, die Überlebenskünstler. Die Beschreibung einer Kneipenwirtin (immer scheinbar genervt, oft mit guten Sprüchen) ist so lebensnah, dass ich unbedingt an Frau Zint aus der Kolkschenke denken muss. „Kennst doch Jürgen, keene Zeene im Maul, aba „La Paloma“ pfeifen“. (S. 130) Oder, als die bestellten Würstchen noch kalt sind: „Ick bin keene Köchin, ick mach hier dit Bier!“ (S. 131). Absolut authentisch Berliner und Berlin! Björn Kuhlig, Großraumtaxi, Berlin 2014 (Verbrecher!-Verlag)  

Tipp 8: Zülfü Livaneli, Serenade für Nadja

Eine große Portion Geschichtswissen, toll verpackt in eine darart spannende Geschichte, dass man ein ordentliches didaktisches Klappern im Hintergrund akzeptieren kann. Gut auch, dass nicht nur die Zeit von 1933 bis 45 beleuchtet, sondern auch die Türkei der Jetzt-Zeit durch eine klug konstruierte Story in den Blick genommen wird. Maya (in ihrer Kindheit als Biene Maya gehänselt), eine junge Universitätsangestellte, betreut Besucher und erfährt nach und nach vom Schicksal ihres Schützlings, einem 87jährigen Professor, der am Ufer des Schwarzen Meeres bis zu seinem Zusammenbruch Geige spielt.

Tipp 7: Swetlana Alexijewitsch, Der Krieg hat kein weibliches Gesicht

Nicht lesen bei trübem Wetter! Wenn man sich auf die einzelnen Aussagen, ich bin zum Teil geneigt zu sagen: Geständnisse, wirklich einlässt, braucht es eine Portion Unerschrockenheit. Die geschilderten Dramen machen alle deutlich, wie perfekt die sogenannte Vaterlands-Mutterlandsliebe in den jungen Frauen funktioniert hat, in die Tiefe ihrer Persönlichkeitsstruktur eingesenkt war. Sicherlich gab es im 2. Weltkrieg ähnliche Erscheinungen auf zum Beispiel deutscher Seite, aber die Durchgängigkeit der Opferbereitschaft für die russsische Erde ist hier schon besonderes bedrückend. Ich musste immer wieder pausieren und konnte diese Funktionalisierung von Emotionen zum Töten nur schwer ertragen.