Drei Wolkenreisen (für Bilder bitte anklicken)

Drei Wolkenreisen: (für Bilder und Struktur den Titel anklicken) 1. Wolkenreise – Die Reiseroute: Malaga – Gibraltar – Funchal (Madeira) – Horta (Faial, Azoren) – Praia da Victoria (Terceira, Azoren) – Ponta Delgada (São Miguel, Azoren) – Portland, Weymouth, Abbotsbury (England) – Honfleur (Frankreich), Amsterdam, Bremerhaven 2. Wolkenreise: Norderney 3. Wolkenreise: Hallig Langeneß 1. Wolkenreise: Eine Beobachtung vorweg: Eine interessante Tour mit viel Meer zwischendurch, was auf mich angenehm entschleunigend wirkte. Das Rauschen des Meeres, das leichte – oder vor den Azoren auch schon etwas kräftigere Schaukeln – man musss es mögen, ich mag es sehr. Und: irgendwann landet man beim Wolken-Motiv. Natürlich habe ich wieder jede Menge Botanik fotografiert (s. Bildergalerien), aber immer, wenn es irgendwie in die Totale ging, waren Wolken da. Wolken haben Motive verschluckt, ersetzt, waren oft in Konkurrenz …und irgendwann waren die Wolken das Hauptmotiv…also eine Wolkenreise. Und wie das Leben so webt: Gleich darauf ging’s nach Norderney. Sie ahnen nicht, was mir dort auffiel! Und dann auf die Hallig Langeneß. Dort schon sowieso und überhaupt! Wenn künftig einer unserer Wetterfrösche vom Azorenhoch quakt, werde ich grinsen müssen: So viele Wetterwechsel innerhalb kürzester Zeit wie auf den Azoren habe ich noch nirgendwo erlebt. Als wir auf São Miguel den Lagoa do Fogo (Feuerlagune) von oben sehen wollten, bot sich etwa folgendes Bild (aus dem Busfenster fotografiert) – nachdem wir im Hafen bei Sommer-Sonnenwetter losgefahren waren! Die graue Suppe im Hintergrund ist der (manchmal) grandiose Ausblick auf den Lagoa do Fogo, der grün und blau schimmern soll. Der Lagoa do Fogo ist 1563 bei einem Ausbruch des Pico da Spateira entstanden. Den Pico gibt es seitdem nicht mehr und der Beweis, dass es den Fogo-See gibt, steht für uns weiterhin aus: Wir jedenfalls haben ihn nicht gesehen! Mal wieder spielten die Wolken eine Rolle: Bekannter Maßen kann man nicht weit gucken, wenn man sich in einer Wolke befindet. Vielleicht so drei Meter bei eiskaltem Wind und Schlagregen… Ich war gespannt, wie die Reiseleiterin die definitiv belämmerte Situation retten würde. Sehr charmant: Sie sagte, das sei doch nun ein guter Grund, wieder herzukommen. Weiter unten wurde das Wetter wieder freundlicher, aber natürlich mit sich bauschenden Riesenwolken. Ach ja: den Wasserfall, den wir besichtigen wollten, hatte es in der Nacht geröllmäßig weggefegt…Alle Wetter halt! Ich werde nicht mehr übers Emsland meckern, da kann man sich wenigstens stundenweise auf schlechtes Wetter verlassen. Na denn: Los geht’s: die übliche Sicherheitsübung und ab aufs Meer… 1. Botanische Angelegenheiten (kommen bei mir immer zuerst, waren auf auf die gesamte Reise verteilt): Der botanische Garten in Madeira ist allein durch seine Lage spektakulär und wird mir auch beim x-ten Anschauen nicht langweilig. Erstaunlich fand ich an der englischen Küste den mediterranen Bewuchs. In Weymouth Plage, einem eher ein bisschen abgerockten Küstenort, wuchsen in den Pflanzenkübeln tropische und subtropische Gewächse üppig vor sich hin. Selten habe ich prächtigere Alstroemerien gesehen und Allium christophii ist mir noch nie in der Größe vor die Pupille gekommen. Ich muss sagen: Ich war ganz schön neidisch! Botanischer Garten Madeira (anklicken) Dann Abbotsbury Subtropical Gardens! Wow. Eine alte Anlage, von den Besitzern immer wieder ergänzt, also wunderbare alte Baumbestände, schön komponierte Parkanlagen und dann knallige Beete, komponiert wie Rudis Restetrampe, nach dem Motto: Wir ham’s ja! Ich war ganz schön froh, dass diese Familie sich dem strengen englischen Gartenstil (verschiedene Grüntöne, zurückhaltende Texturen, kaum Buntes) durchaus verschlossen gezeigt hat. Sie haben halt alle gesammelt und dann zusammengewürfelt. Ich fand die Vielfalt und die etwas unkonventionelle Gestaltung gerade toll. In unserer Gartenführerin kamen ab und zu gartenarchitektonische Bedenken hoch, die sie dann aber in der Begeisterung ertränkte, dann DIESE Pflanze hier AUCH noch zu finden. Die im Park verteilten Figuren (hauptsächlich) aus Alice in Wonderland und anderen Phantasien wirkten in dieser Umgebung nicht verkitscht, sondern amüsant. Wann sieht man schon mal hinter Riesenrhabarber (Gunnera manicata) ein Boot mit einer Eule, die einem rudernden Fuchs etwas auf der Gitarre vorspielt? „Hier gibtet von allet“, würde der Berliner sagen. Sogar einen Hundefriedhof haben die Inhaber angelegt. Abbotsbury Subtropical Gardens (zum Vergrößern anklicken) 2. Gibraltar, das Ende Europas Leider diesig und wolkig, das ist ja nichts Neues. Spätestens seit diesem Bild war mir klar, dass trotz allerlei Motivsuche (rotes, rostiges Schiff, Landende Europas..) dann doch die Wolke die Hauptrolle spielen wird. In der Tropfsteinhöhle, die wir besichtigen, ist aber im Gegensatz zu draußen (einer der meistgehörten Sätze der Reiseführer ist: „Dort hinten könnten Sie dann ….sehen.“) allerbestes (ziemlich buntes) Licht. Und wir erfahren, dass Her Majesty Queen Elisabeth II und der Duke of Edinburgh diese Höhlen am 10./11. Mai 1954 bei ihrem Gibraltar-Besuch aufgesucht haben. Na, die waren ja wohl länger nicht mehr hier. Überall die berühmten Affen, die wir seit unserem Bali-Erlebnis (ein Mitreisender wurde böse gebissen) mit Respekt  und eher auf Abstand betrachten. Man beruhigt uns, diese hier seien kleiner und geneigt zu warnen, bovor sie beißen. Dieser Bursche machte dann auch einen recht entspannten Eindruck, als würde er an einer Bushaltestelle zurückgelehnt warten:   Gibraltar draußen und drinnen (Bilder zum Vergrößern anklicken) 3. Ankunft in Madeira. Sie raten nicht, was uns begrüßt: Wolken in kitschig rosa, in grollend grau, in babyblau…   Wolkengalerie Madeira (anklicken) Funchals Altstadt (Madeira): Bemalte Türen und mehr In Funchals Altstadt fällt eine große Menge bemalter Türen, Fenster und Wände auf. Ein Künstlerkollektiv hat damit begonnen und viele haben sich dem angeschlossen. Ganz verschiedene Stile, Moden und Techniken sind zu sehen, von der gekonnten Illustration bis zur ambitionierten Pinselquälerei. Das Kneipen- und Restaurantviertel wirkt dadurch charmant und individuell. Türengalerie Altstdt Funchal Madeira – Die Markthalle in Funchal An den Wänden die historische Darstellung des Marktes mit Azujelos   Die Wirklichkeit von 2022 zeigt dann die Menschen mit Mundschutz. Eine Variation zu den vielen Bildern, die über diese spannende Markthalle existieren (auch bei mir hier) und ich frage mich, ob wir sie in ein paar Jahren mit einem „guck mal, so war das damals“ oder einem „guck mal, so fing das an“ betrachen werden. Dann die typische Mischung aus Fisch, Pflanzen, Obst und Gemüse. Besonders hat mich immer dieser gruselige lange schwarze Fisch interessiert (Espada preta), der wie ein dreckiger Lappen über die Tische hängt. Trifft man ihn (schneeweiß) auf seinem Teller wieder, ist er köstlich. Dann die übliche exotische Obstmischung und knallrote Tomaten, dazu Möhren, die mich geruchlich aus ihrer Kiste geradezu anspringen. Vermutlich das, was passiert, wenn man die Sachen einfach mal reif werden lässt.. Und dann Versuchung pur für Menschen mit botanischem Träller (soll es ja geben ;-). Aber die nüchterne Überlegung, was denn wohl Coopers Baumfarn und Jacaranda arborea im Emsland machen werden, führt zur Ernücherung. Trotzdem schön zu sehen. Markthalle Funchal (anklicken) Abfahrt von Madeira, aber der Kapitän kehrt schon nach kurzer Zeit „wegen eines medizinischen Notfalls“ um. Vom Balkon aus beobachte ich eine gespenstische nächtliche Szene: Männer, die in weißen Ganzkörperanzügen herumgeistern, regeln die Ausschiffung des Patienten. Madeira: Abschied und nächtliche Wiederkehr Abschied von und nächtliche Rückkehr nach Madeira (anklicken) Der Wind und die Wellen frischen in Richtung Azoren ordentlich auf. Ich finde das toll, in den Restaurants wird es allerdings etwas übersichtlicher. Die Wellen sollen 4 bis 5 Meer hoch gewesen sein, der Wind in Richtung Hurricane. Dafür hat der Stewart uns heute einen Oktopus aus unseren Betten gebastelt, Augen aus Kaffeekapseln, das ist doch mal was! Eine lustige Nebenbeobachtung: Es gibt offenbar unterschiedliche Schulen der Textilfaltkunst Als unser Stewart bemerkt hatte, dass wir Mordsspaß an den gefalteten Objekten auf unserem Bett hatten (er hatte einmal beim Getränkebringen beobachtet, wie ich mit großem Geknicker so ein Produkt fotografierte), bekamen wir immer mal wieder so ein Gebilde geliefert. Auf den Kanaren hatten wir vor Jahren in einem Hotel die tollsten Schwäne, gefertigt aus Handtüchern, die je nach Trinkgeld immer komplexer wurden. Die Werkstücke auf dem Schiff waren etwas schlichter und hatten oft Kaffeekapseln als Augen, was absolut für die Kreativität der Künstler sprach. Betttiere und andere Welterscheinungen (zum Vergößern anklicken) 4. Azoren Wegen der 7 Stunden Verspätung (medizinischer Notfall) lassen wir Pico aus und steuern direkt Horta auf Faial an. Wieder Wolken, die sich über Bergrücken drücken und ein etwas verschlafen wirkender Ort, geprägt durch eine große Marina mit vielen Segelbooten. Gegenüber dem Jagdhafen liegt Peter’s legendäre Sportsbar (genau: Peter Cafe Sport), die inzwischen auch ein Museum beinhaltet. Die auf einen Job wartenden Schipper „Koje für Hand“ sehen wir eher nicht, wohl aber viele Segler, die ihr Boot in Ordnung bringen (lassen) und Touristen. Gegenüber werden Segelboote mit neuem Unterbodenschutz versorgt und man kann Walwatching buchen. Der ganze Ort ist schwarz-weiß, im Hafen stehen einige alte Eisenholzbäume, barocke Kirchen. Sollten die Bilder etwas düster wirken: Jawohl! Kurz nach dem Spaziergang bekammen wir wieder eins „aufs Jack“. Horta (Faial) Dafür gibt’s dann bei Abfahrt wieder einen wunderbaren Sonnenuntergang. In Praia da Victoria auf Terceira, einem etwas verschlafenem Ort mit vielen freundlichen Leuten, werden uns die Kirchen geöffnet („endlich wieder Kreuzfahrtschiffe!“) und erklärt. Mir hat’s dabei besonders das „tragende Personal“ angetan: Diese armen Engel tragen eine ganze gewaltige Madonna, die noch nicht mal ordentliche Schuhe trägt. Der rechte (von uns aus) schaut auch schon ganz schön ängstlich nach oben. Wie soll das auch auf Dauer gutgehn, die Flügel sind in einer Art Wolke verklemmt und Beine gibt’s auch nicht… Auch auf den Häuserwänden spielt das „tragende Personal“ weiterhin eine Rolle auf eingelassenen Fliesen: An- und Abfahrt Sao Miguel (anklicken zum Vergrößern) Von Sao Miguel nach Portland (England) sind es 3 Tage mit 17 Knoten zu Schiff. Langeweile? Keinesfalls! Endlich in Ruhe den Knausgard zu Ende lesen, aufs Meer schauen, das wechselnde Licht beobachten, das Rauschen des Meeres alle Hektik in sich löschen lassen. Wolkenbilder ohne Ende betrachten und nach Tagen mitten auf dem Atlantik: Ein Schiff. Tatsächlich! Da kaum Netz verfügbar und damit wenig schreckliche Weltnachrichten zu uns durchdringen, ist das Schiff tatsächlich Gegenstand des Gesprächs beim Abendessen. Wie entspannt! ..und Wolken… der wunderlichsten Art… In Portland angekommen, geht es erstmal nach Weymouth, einem recht abgerockten Küstenbadeort mit „Kirmes“ am Strand, einem Hundebadestand und Blumenkübeln, in denen absolut alles wächst, was den nordeuropäischen Gartenfreund neidisch machen kann. Weymouth (zum Vergrößern anklicken) Weiter geht’s nach Abbotsbury: Sandstein mit Reetdach, beschauliches Straßendorf, das von Pflenzenfreunden auf dem Weg zu den Subtropical Gardens besucht wird. Abbotsbury (zum Vergrößern anklicken) Fotos von den Subtropical Gardens oben bei Botanik! Die Engländer sind doch wirklich für die eine oder andere Überraschung gut. Die Passkontrolle in Portland wurde von der Schiffsbesatzung mit viel Ernsthaftigkeit geplant (verschiedene Gruppen und Räume), verlief dann aber doch mild, lax  und sehr freundlich. Richtig lustig fanden wir den Abschied aus Portland. Aus einer aus einem Container improvisierten Bühne (Klappe vorne hoch) sang ein Shantychor und eine kleine Abordnung mit alter Kanone baute sich auf, um uns ordnungsgemäß mit drei Böllern zu verabschieden. Der erste davon war so überraschend laut, dass ich das Bild verrissen habe. Sehr ordentlich organisiert: Drei machten die Arbeit, einer befahl und alle hielten sich im richtigen Moment die Ohren zu. Beim zweiten Böller habe ich nicht verrissen, hatte aber den Eindruck dass der Schütze etwas spät reagiert hatte. Rechts die Wolke verhüllt den Kommandeur, der sich ordnungsgemäß das rechte Ohr zuhält. Abschied von Portland (Bilder zum Vergrößern anklicken) Honfleur ist der charmante französische Ort, der an der Seine liegt und am Meer. Wir hatten es wieder mit vielen schönen Wolken zu tun, dann auch mit daraus austretender Feuchtigkeit. Das Eric-Satie-Museum, das ich gerne aufsuchen wollte, hatte laut Prospekt täglich geöffnet. Über dem Eingangsschild mit chaque jour (jeden Tag) klebte allerdings ein dezentes sauf mardi (außer Dienstag). Sie raten niemals, an welchem Wochentag wir in Honfleur waren. Na ja, wie der Lagoa do Fogo: ein guter Grund wiederzukommen! Honfleur (Bilder zum Vergrößern anklicken) Beiderseits des Kanals (in England und Frankreich) scheint es üblich zu sein, eine Art Rummel oder Kirmes in den Küstenorten anzubieten. Riesenrad wollten wir aber nicht fahren, das  wäre auch noch eine feuchte Angelegenheit geworden. Da kam der Schiffsschuttle grad recht.. Die Fahrt durch den Nordseekanal und durch die Schleuse IJmuiden, die als größte Seeschleuse der Welt gilt, ist interessant. Vorbei an flacher grüner Küste mit moderner Industrie, mit kleinen Hollandhäuschen und mit tollen Wolken, also Wolken…   Wolken über dem Noordzeekanaal (bitte anklicken) Amsterdam In Amsterdam liegt das Schiff überraschend zentral. Wir blicken auf den gläsernen Bahnhof und sind direkt in der Innenstadt. Überall die üblichen Fahrräder…und in der Oude Kerk eine zeitgenössische Kunstausstellung. Wir fanden die vielen Glöckchen lustig und wurden vom Aufsichtspersonal mehrfach aufgefordert, nun auch damit zu klingeln. In einer Kirche Hunderte von Glocken zum Läuten bringen, das ist doch mal was… Die Oude Kerk wird als Baukörper genutzt, um zeigenössische Kunst zu zeigen. Zudem hat es uns das Chorgestühl angetan. Oude Kerk Amsterdam (bitte anklicken) Nach zwei Tagen Amsterdam geht’s zurück nach Bremerhaven und nach Hause. Fazit: Ja, sehr schöne Route! Absolut zu empfehlen, wenn auch etwas Ruhe dabei sein darf (3 Tage auf dem Meer sind toll, wenn ich sie genießen kann und will!) Aber: Ich würde die Tour beim nächsten Mal eher im Juli machen, weil dann auf den Azoren die Hortensienhecken blühen. Man konnte im Mai davon schon etwas ahnen, aber das muss voll erblüht sensationell schön sein. Leider: Im Juli sind dann wohl eher mehr Menschen unterwegs. So war es überall sehr beschaulich… 2. Wolkenreise: Norderney Wenn man nicht die „Saufausflugstage“ wählt, ist Norderney eine landschaftlich abwechslungsreiche Insel, die man gut ereichen kann (mit dem Zug bis Norddeich-Mole und wenige Schritte bis zum Schiff) und die sich etwas von dem alten Nordseeheilbad-Charme erhalten hat. Wer auch gerne mal schön essen geht, ein bisschen schoppen mag, vielleicht grad mal ein Standesamt im weißen Sand in Strandkörben sucht, ist hier wunderbar bedient. 3. Wolkenreise: Hallig Langeneß Die Steigerung von beschaulich heißt Hallig. Vogelgeschrei und Meeresrauschen, dazu jede Menge tolle Sonnenuntergänge. Wer Brutvögel beobachten will, sich für Salzwiesen und überhaupt die Natur in der Nordsee interessiert, ist hier absolut richtig. Tiefenentspannung! Schwer empfohlen, wenn Sie mal richtig ‚runterkommen möchten. Die bloße Ankunft auf der Hallig bremst einen völlig aus und es breitet sich eine große Ruhe auch in den Köpfen von Rappelköppen aus (wenn sie sich daruaf einlassen!) Wunderbar!  

Gedanken zur Zeit (für Bilder bitte anklicken)

  Oktober 2021 Jetzt aber doch mal im Ernst. Ein Aufruf zum Leben in der Lingener Innenstadt, der lustig anfängt und mit einem sehr ernsten Appell endet. In der Nacht von Samstag auf Sonntag, endlich war ich wegen gelungener Selbsthypnose trotz größten Getöses, wie eigentlich immer am Wochenende in der Lingener Innenstadt, ein wenig eingeschlafen, da weckte mich ein lauter Trompetenstoß (oder der eines anderweitigen BLASinstrumentes) und die folgend ebenfalls sehr laut zu hörende Liedzeile: Deine Freundin die kann blasen, die kann blasen, blasen, blasen…deine…. (3 Wiederholungen), die mich um genau 2.02 Uhr mordmäßig wach und mordmäßig wütend machte. An die fortgesetzte Körperverletzung durch nächtliches Getöse vom Skaterplatz oder vom Schulhof gegenüber haben wir uns ja schon ein bisschen gewöhnt, aber jetzt auch noch durch fortgesetzte Geschmacklosigkeit aus dem Schlaf gerissen zu werden …kein Gedanke mehr an Schlaf… Anderntags ging mir die blöde Liedzeile nicht aus dem Kopf und ich schaute nach: Deine Freundin die kann Blasen Die kann Blasen, Blasen, Blasen Die kann Blasen, Blasen, Blasen An den Füßen nicht ertragen Gut, ich musste ganz schön grinsen…reingefallen halt im Halbschlaf. Aber im Ernst: Muss ich als Anwohnerin der Lingener Innenstadt diesen und anderen Blödsinn an jedem Wochenende ertragen? Das Getöse vom Skaterplatz fängt so oft wieder an, wie die Polizei wieder abrückt. Ich rufe schon meist gar nicht mehr an. Bei Regen wird unter dem Vordach der Grundschule gegenüber gekifft, gesoffen und herumgeschrien, dass es keine Chance auf Schlaf gibt. Die Frage, die sich mir allmählich ganz dringend stellt, ist die: Gibt es ein Menschenrecht auf Nachtschlaf, auf den eigenen Parkplatz und auf die Unversehrtheit der eigenen Person in der Lingener Innenstadt? Die Parkschlange der Grundschultaxieltern, die unter unserem Schlafzimmerfenstern mit laufendem Motor auf dem Gehsteig wartet, ist wirklich nötig? Muss ich mich anscheißen lassen, wenn ich meinen eigenen Parkplatz benutzen möchte? Vor einiger Zeit habe ich einmal höflich gebeten, nicht ständig auf dem Gehsteig zu stehen und wurde prompt bedroht von einem erregten Vater, der schöne Worte für mich hatte. Ich will hier von den Erfahrungen der Nachbarinnen gar nicht reden, das würde viel zu lang. Und ich bleibe bei mir als Person: Jede*r, der mich kennt, weiß, dass ich ganz besonders viel für Kinder und Jugendliche übrighabe. Sie sind nicht schuld, wenn ihre Eltern zu faul sind, ein paar Meter zu gehen und dafür sogar die Gefährdung anderer Kinder in Kauf nehmen (die auf dem Gehweg zwischen den Autos herumlavieren müssen). Sie sind auch nicht schuld, wenn der Skaterplatz eigentlich um 20 Uhr (da stand mal ein Schild) geschlossen werden sollte, sich aber keiner (außer den jeweils pflichtschuldigst nach Anwohnertelefonat vorbeikommenden bedauernswerten Polzist*innen) darum kümmert. Regeln funktionieren nur dann, wenn sie durchsetzbar sind, Zusammenleben nur dann, wenn es Möglichkeiten gibt für alle, unbeschadet und in Würde zu leben. Und dafür, dass das einigermaßen funktioniert, sehe ich definitiv die Lingener Politiker in der Pflicht. Schafft die Voraussetzungen dafür, dass die Lingener Innenstadt bewohnbar wird! Juni 2021 Ohrgewürm Kennen sie das: Plopp, geht im Kopf ein Lied auf und wird dedudelt, immer wieder und wieder? Mein schlimmster Ohrwurm: Nach der Wende fuhren wir im Speckgürtel von Berlin des öfteren zu Hellwegs Profi-Baumarkt, der mir zum Amüsement meines Gatten mit einem ständig sich wiederholenden Kopf-Jingle noch Tage nach dem Besuch dieses Heimwerkerparadieses mein Leben versüßte. Während des Einkaufes von Schraube, Holz und Zement ertönte in besagtem Baumarkt in recht kurzen Abständen (singen Sie mit!) Hell (mit starker Betonung auf Hell) wigs Profi-Baumarkt ta ta ta ta …düdel düdel. Ich will das hier gar nicht so genau aufschreiben, weil ich’s dann wieder 3 Tage nicht loswerde. Im Moment nun ist es Peter Maffey mit Sieben Brücken, ja, über die man gehen muss, dann siebenmal die Asche aber einmal auch der häääle Schain! Wo kommt das bloß her? Auf NDR-Kultur haben sie es sicherlich nicht gespielt, freiwillig würde ich es auch sonst nicht hören, aber es muss vor einigen Tagen von irgendwo fies in mein Ohr gekrochen sein. Es tönt schon, wenn ich aufstehe. Am schlimmsten ist die immer wiederkehrende Schlaufe von manchmal wünsch ich mir mein Schaukelpferd zurück. Ich kann es mir nur so erklären: Es lief auf NDR 1, als ich bei der Fußfee saß. Da läuft immer NDR 1 und ich amüsiere mich über die Lieder meiner Jugend. Ich habe es wohl nicht bewusst wahrgenommen, aber nur dort kann es in meinen Gehörgang gekrochen sein. Nichts gegen diesen Song, ist ursprünglich Karat-DDR-Ware, von Peter 1980 dem Westen angedient. Aber eigentlich ist es keine Musik, die ich freiwillig höre – und nun höre ich sie ständig. Nach meiner Erfahrung werde ich die nur wieder los, indem ich einen noch schlimmeren Ohrwurm für eine Zeit zulasse. Da die Firma Hellweg (tatatata…) dankenswerter Weise von der akustischen Folter zurückgetreten ist (und der Hersteller des Jingles ja sicherlich schon länger einsitzt), da die Weihnachtsjingles noch etwas auf sich warten lassen: Weiß jemand einen möglichst blöden und kurzen Song, den er mir vorsingen könnte? So drei- bis viermal? Er hätte bestimmt auch selbst etwas davon! 11. April 2021 Vom Eise befreit…   Also, dieses Frühjahr lässt sich etwas schwer an. Schnee an Ostern, Politiker, die sich nicht entscheiden können, der nächste Lockdown, aber wenig Impfstoff in Sicht und beim Impfen auch keine beeindruckende Geschwindigkeit. Immerhin prophezeit uns Martenstein heute im Tagesspiegel (Tagesspiegel vom 11.04.2021), Deutschland könne doch beim Produktionstempo von Infektionsschutzgesetzverschärfungen (so ein Wort gebiert nur das Deutsche!) und bei den Brotsorten Weltspitze sein. Schwacher Trost! Wenn wir schon nicht ordentlich regiert werden, dann haben wir doch unsere Bildung! Dochdoch! Hier der Beweis: Am Samstag vor Ostern saß ein Gast (Benno) auf unserem Balkon und deklamierte als Dank für eine frühlingshafte Dienstleistung meines Gatten (Oldenburger Spaten schärfen und Stiel in Vorschlaghammer hammern) den Osterspaziergang (Faust I). Also nicht nur die ersten Verse, die kann ja jede, nein das ganze Gerät. Wir staunen. So ist der gute Goethen mir mal wieder in Erinnerung gekommen. Wie aktuell doch dieser Text ist: Osterspaziergang Vom Eise befreit sind Strom und Bäche / Durch des Frühlings holden, belebenden Blick; na ja, am Samstag stimmte das noch / Im Tale grünet Hoffnungsglück;/ Der alte Winter, in seiner Schwäche, / Zog sich in raue Berge zurück./ Von dorther sendet er, fliehend, nur / Ohnmächtige Schauer körnigen Eises/nene, am Ostermontag hat es ganz schön geschneit/ In Streifen über die grünende Flur;/Aber die Sonne duldet kein Weißes,/na, es war doch ganz und gar weiß im Emsland/Überall regt sich Bildung und Streben, Ach ja, Schule auf, Schule zu, was denn nu? / Alles will sie mit Farben beleben;/ Doch an Blumen fehlt’ s im Revier, die Blumenläden durften doch grad wieder öffnen / Sie nimmt geputzte Menschen dafür./Kehre dich um, von diesen Höhen/Nach der Stadt zurückzusehen./Aus dem hohlen, finstern Tor/Dringt ein buntes Gewimmel hervor. Dass Goethe das schon 1806 vorhergesehen hat, Lockdownende etwa? Jeder sonnt sich heute so gern. /Sie feiern die Auferstehung des Herrn, /Diesen platten Vers hatte ich glatt verdrängt Denn sie sind selber auferstanden, /Aus niedriger Häuser dumpfen Gemächern, /Aus Handwerks- und Gewerbesbanden, /Aus dem Druck von Giebeln und Dächern, /Aus der Straßen quetschender Enge, /Aus der Kirchen ehrwürdiger Nacht/Sind sie alle ans Licht gebracht. Kirche ist ja grad auch ziemlich schwierig und sowieso… Sieh nur, sieh! wie behänd sich die Menge/Durch die Gärten und Felder zerschlägt, /Wie der Fluss in Breit‘ und Länge/So manchen lustigen Nachen bewegt, uiuiui, zerschlägt auf bewegt, er hat definitiv gesächselt/Und bis zum Sinken überladen/Entfernt sich dieser letzte Kahn. /Selbst von des Berges fernen Pfaden/Blinken uns farbige Kleider an. Ich höre schon des Dorfs Getümmel; Hier ist des Volkes wahrer Himmel, ach Goethe! Zufrieden jauchzet Groß und Klein: Hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein! Na gut denn also! Dass das so oft missbraucht wurde, dafür kann Goethe ja nichts… Danke, lieber Benno für die Osterbildung – nachgereicht. Wenn sonst schon nix klappt…. 25. Februar 2021 Liebe Leser*innen, Leserinnen! Zwei Sätze (oder auch drei, denn ich bin ein bisschen wütend) noch zum Gendersternchen (s.u. 15.1.), weil ich nun doch schon mal drauf angesprochen werde. Zum Mitdenken: Ich bin seit den 70er Jahren eine Verfechterin gendergerechter Sprache, habe mich einige Zeit Luise M. Pusch (dazu ein informatives kurzes Video) angeschlossen und feminin gegendert. Gibt natürlich ordentlich Missverständnisse („Wie? Nur Lehrerinnen angemeldet?“), schöne Gesprächsanlässe („Hätten Sie auch nachgefragt bei 20 angemeldeten Lehrern, warum gar keine Frauen dabei sind…? „Nö, Wieso?“), dann habe ich eine Lösung für mich gefunden, mit der meine soziale Umwelt nach einiger Zeit ganz gut umgehen konnte: An ungeraden Tagen weiblich gegenderter Plural (Schülerinnen), an geraden männlich (Schüler). – Punkt, klappt ganz gut, gibt manchmal auch noch schöne Gesprächsanlässe. Ansonsten am liebsten Plurale ohne Geschlechtsmerkmale (die Lehrpersonen). Dann kam das Sternle und ich habe mich zwecks öffentlicher Sprache (und Schreibe) überreden lassen, mit Sternchen zu gendern. Ich bereue bitter! Das zerhaut Texte, das hilft niemander und niemandem, das ändert nichts an den Realitäten! Nach wie vor werden Frauen in unserer Kultur weniger gesehen, schlechter bezahlt und familär stärker belastet. Dieses affige Sternchen ist in meinen Augen nichts anderes als ein Nebenschauplatz einer gesellschaftlichen Ungerechtigkeit, auf dem Gutmenschen sich ein bisschen tummeln dürfen, Frauen sich ein bisschen besser wahrgenommen fühlen können (echt jetzt, hilft das!?) und dann haben wir schon etwas zu tun, was von den eigentlichen Problemen ablenkt. Das als Schluckauf auch noch gesprochene Gendersternchen hat mich zudem endgültig in die Flucht geschlagen! Ich verlasse diesen „geschlechtergerechten“ Nebenschauplatz nun wieder. Ich mache auch keinen : und Inne auch nicht und stelle nur ab und zu sicher, dass meine Leserinnen (Liebe Leser: heute ist ein ungerader Tag! Das schaffen auch Männer, sich in diesem Plural wiederzufinden!) mich verstehen. Alles klar jetzt?! 24. Februar 2021 Die Post und der Lift Also gut…kein Wort über C. Sie sind das Leid, ich bin das Leid…aber manchmal gibt’s auch komische Sachen. Heute Morgen klingelt die Post, also eine von diesen Nachfolgeorganisationen unserer guten alten staatlichen Post, wo man … also es klingelt natürlich ein Mensch, der einen Auftrag zum Klingeln bei mir hat, weil ich wegen C. etwas bestellen musste, was ich wirklich brauche, aber normalerweise nie … niemals! bestellt, sondern geholt hätte. Da wir ganz oben wohnen und kontaktlose Übergabe in diesen Zeiten (hab nix mit C. geschrieben!) sinnvoll ist, haben wir die Liftmethode erfunden: Es klingelt ein Bediensteter (24.2., wenn sie nicht verstehen, warum hier männlich gegendert wird: zum 15. Januar herunterscrollen) besagter Zustellorganisationen. Er ruft Paket oder im Zweifelsfall die Post oder eine Päckchen oder große Paket! Unsere anfänglichen Versuche mit einem höflich verklausulierten: Würden Sie das dann bitte in den Lift legen? Ich nehme es oben heraus enden mit Schweigen am anderen Ende, dann einem gepressten Jo und das Paket liegt dann sonstwo, im Schnee vor der Haustür, vor der Tür der Nachbarin…wurde wieder mitgenommen… Meine Blitzidee: Es muss an dem unbekannten Wort Lift liegen. Ist ja auch komisch, lift-up, liften als Gesichtsstraffung. Der nächste Versuch dann also: Können sie das Paket bitte in den Fahrstuhl legen? Was ich nicht gesehen habe, unsere wohlbekannte Zustellerin steht unten und sagt etwas pikiert: Ja klar, wie immer, ich drück auf den obersten Knopf. Und: schönen Tag noch! Ich freu mich: Ihnen auch und danke für den Service! Der nächste ist ein indisch aussehender Zusteller, der trotz bitte in den Fahrstuhl oder ist es schwer, dann komm ich runter mit Jo antwortet und eine schwere Weinkiste, die unten bleiben soll, schon eine Treppe hochgeschleppt hat, bis ich ihn von weiteren Taten abhalten kann. Der Mann tut mir Leid, ich gebe ihm etwas Geld und erkläre: wenn Paket schwer, unten lassen und ärgere mich über meine blöde Erklärungssprache. Erinnert mich an diese platte gönnerhafte Gastarbeiteransprache (was für ein Wort!) der 60er Jahre. (Ach ja: Wenn sie dazu etwas wirklich Authentisches lesen wollen: Mely Kiyak, Frausein, München (Hanser), 2020, 18 €) Grammatikalisch einfach, brummle ich beim Weinverstauen vor mich hin, muss nicht wie Idiotensprache klingen und bin mir selbst etwas böse. Heutiger Versuch nun: Eine Paket! –  Ja danke, ist das schwer? –  Schweigen. – Großes Paket? –  Schweigen.- Legen Sie’s in den Fahrstuhl? (langsam und deutlich sprechen!) – welche Stuhl? Also doch besser wieder Lift? 31. Januar 2021 Liebe Leserinnen! (um zu verstehen, dass damit auch Männer gemeint sind, müssen Sie den unten stehenden Beitrag vom 15.1.21 lesen. Keine _ mehr, keine * oder Innen. Ich habe abgeschworen aus feminstischer Sicht!) Luftbaden am Kanal Das  traum-schöne Winterwetter hat heute ganz viele Menschen vor die Tür gelockt. Überhaupt scheint es auch ein paar Tugenden zu geben, die Corona lockt. Draußen tummelt sich ein ganzer Volkssturm von Spaziergängern. Wenn man sich an die halb-vermaulten Familien-Sonntagsspaziergänge erinnert, die in unseren Kindertagen noch manchmal üblich waren, eindeutig eine andere Qualität. Ich hab genau geguckt: Die meisten haben nicht verkniffen, sondern ganz vergnügt geschaut. Das sollte man sich auf der Zunge zergehen lassen: Da müssen Psychologen sich findige Tricks ausdenken (Waldbaden, ha!), damit die Menschen überhaupt nochmal den Allerwertesten vor die Tür bewegen, dann kommt so ein kleines Eingesperrtsein (also gut, so richtig lustig ist das nicht!) und schon rennen alle los. Die Wege am Kanal sind zum Teil so belebt wie Straßen…na ja, da ist weniger los im Moment. Vielleicht ist das ja so eine Tugend – ich schlage vor Luftbaden (Spazierengehen ist irgendwie versaut), die ein bisschen zurück bleibt. Wäre doch schön. 15. Januar 2021 Bescheidener Vorschlag zum Schutze der Schreibenden vor dem * (eine Polemik) Oder: Warum Sie das * hier zum letzten Mal sehen! Sie haben auch schon bei mir gesehen, obwohl ich mich mein Leben lang (und das ist schon ganz schön lang!) gegen affiges Rumgegendere gewehrt habe. Gleichzeitig ärgerlich aber auch immer wieder die Tatsache, dass Frauen mit in das generische Maskulinum hineingebuttert werden, also Ärztinnen ein kümmerliches Dasein als die Ärzte führen müssen. Die echten Aufreger für Luise F. Pusch („die Periode ist bei jedem anders“, in einer Tamponbenutzerinnenbeilage) sieht man nur noch selten, aber das allgemeine Herumgegendere mit Unterstrich, Doppelpunkt, Sternchen geht mir beim Schreiben schon ziemlich auf den Zwirn. Besonders wenn dann im Kasus angepasst werden muss („der/dem glücklichen Lehrer*in einer/eines klugen Schüler*in) zerhackt es mir den Text in einer Weise, dass ich nicht mehr weiterschreiben mag. Die Lösung des Online-Dudens, alle Bedeutungen anzupassen (die Lehrer = männliche Lehrpersonen) entspricht nicht (oder vielleicht noch nicht?) dem tatsächlichen Gebrauch. Und was soll der Duden eigentlich? Sprache beschreiben und dokumentieren! Es hat mich beim Korrigieren oft geschüttelt, wenn ich feststellen musste: Der/die Schüler*in darf das neuerdings so schreiben, auch wenn dir dabei zehnmal die Fußnägel hochklappen. Die Logik war und ist die: Wenn eine Vielzahl von Menschen in unserer Kultur das so schreibt, dann sanktioniert der Duden nach einer gewissen Zeit diese Schreibung als zulässig. Nun aber die Abschaffung des generischen Plurals? Im Vorgriff auf eine Entwicklung? Dann bin ich dafür, dass endlich die logisch schlüssigen Vorschläge zur Rechtschreibreform vom Duden sukzessive durchgesetzt werden. Tatsächlich, da gab es mal logisch nachvollziehbare Regelvorschläge, die den Schüler*innen (und Lehrer*innen das Leb*innenJ leichter gemacht hätten). Übrig geblieben davon ist das ss nach kurzem Vokal und das ß nach langem, tatsächlich -außer bei Eigennahmen- ohne Ausnahme – und vorausgesetzt Sie besitzen ein Keyboard mit gr., also deutscher Tastatur. Alles andere hat Bürokratismus und Rumdiskutiererei quasi wieder zunichte gemacht. Allerdings: Die Kommasetzung zum Beispiel beim Erweiterten Infinitiv ist etwas einfacher geworden, man darf tatsächlich auch sinnstrukturierend den Beistrich setzten. Wie schön, das war nämlich der ursprüngliche Sinn der Kommata! (Und ich brauche meinen armen Schüler*innen nicht mehr beibringen, dass der Nicht Erweiterte Infinitiv nicht abgetrennt wird, es sei denn!!, ein hinweisendes es, daran, darauf, dazu steht davor. Ist doch ganz einfach, oder?). Bekloppte Regelungswut, die geeignet war und ist, jungen Menschen die Lust am Schreiben zu versauen! An der Vereinfachung solcher deutschen Regelungswut könnte sich die Dudenredaktion mal beteiligen statt 12 000! neue irrelevante Inhaltsbeschreibungen aufzunehmen. (Rektoren = männliche Personen, die zum Beispiel eine Grundschule leiten mit lauter Lehrern, die weiblich sind?!) Schon: Der Ärger über den generischen Plural begleitet mich seit mindestens 1970 (da fing ich an, allgemeine Sprachwissenschaften zu studieren), aber auch der Ärger über sprachzerhackende, ja was hatten wir denn da so im Laufe der Jahre: LehrerInnen, Lehrer(innen), Lehrer/innen, Lehrer_innen, Lehrer:innen, Lehrer*innen…Wissen Sie, was ich noch am tollsten finde: Einige Sprecher*innen habe es neuerdings drauf, so zu reden, dass sie/er/es/div. das St*ernchen als Leerstelle mitsprechen. Glottal stop nennt man das oder Nullmorphem, gekennzeichnet dadurch, dass dort kurz nix ist. Also zum Beispiel: Künzels(nix)au ist etwas anderes als Künzelsau. Also gut: die Duden-Leute kümmern sich um die in den männlichen Pluralen verpulten Frauen, die Linguisten sind darüber mäßig begeistert, weil Otto und Ottilie Normalverbrauer das eher nicht tut. Meine Lösung dieses Problems ist seit 30 Jahren diese: An geraden Tagen benutzte ich den männlichen, an ungeraden den weiblichen Plural. Also: Zum Beispiel am 14.Januar gibt es die Lehrer (bei denen Lehrerinnen mitgedacht werden müssen) und am 15. Januar die Lehrerinnen (zu denen oft auch Lehrer gehören). Der Sinn? Dieses kleine Stutzen, das bei Lehrerinnen in Ihrem Kopf auftritt (wie, nur Frauen im Kollegium?), bewirkt auf Dauer ein Bewusstsein in eben diesem, dass es eine sprachliche Sauerei ist, dass 20 Grundschullehrerinnen unter dem Begriff Lehrer unterschlupfen müssen, die Rektoren aber niemals unter die Rektorinnen gerechnet würden. So umgehe ich beide Kalamitäten: die immer männlich gegenderten Plurale und das Rumgeeiere mit den Sternchen, das mir die Texte zerschießt. 25. Dezember 2020: Weihnachtsspaziergang am Kanal Alle sagen freundlich: „Frohe Weihnachten!“ Dabei strahlt der Himmel ganz ungetrübt blau und der Wasserturm schaut überall heraus. Dann sag ich auch mal: Frohe Weinachten! Neu: Lesetipp Nr. 20 3. Dezember 2020: Die Kerze Nummer vier! Diesmal kommt die rechte Weihnachtsstimmung nicht so wirklich auf. Was ist den nun besser:  Konsumgerangel,  sentimentales Gedöns, Geschubse in der Parfümerie am 24. Dezember? Darüber wurde ja auch ganz schön gemeckert, über die endlose Folge von Weihnachtsfeiern, das Ich-muss-zu-Oma-fahren und SOS-Geschenke (Socken, Oberhemd, Schlips). Was wollen wir denn nun? Jetzt ist es endlich mal viel ruhiger, keiner muss zu Oma..hoppla aber viele würden gerne…keiner Glühwein bis zum Umfallen auf dem Weihnachtsmarkt trinken…oder doch gerne? Und Weihnachtsgottesdienste? Letzte Woche war ich in der Kirche, weil an Totensonntag die Toten des Jahres abgekanzelt (so schöne Worte hat nur das Deutsche!) wurden. Eine traurige kleine Gemeinde war da zusammengekommen. Der Pfarrer im Kampf mit seiner Maske und und mit schnalzenden Gummihandschuhen, trotzdem irgendwie tröstlich. Für jeden Toten der Gemeinde wird eine Kerze entzündet. Unser Bruder ist die Kerze Nr. 4. Was daran tröstlich ist, kann ich gar nicht einmal sagen. Vielleicht ein Gefühl von Solidarität in der gemeinsamen Erinnerung… So könnte es ja Weihnachten auch sein -mit Kerze Nummer 4 – in kleinen Gruppen. Dieser zweite Lockdown polarisert ganz schön. Die, die vorher böse waren, sind es nun umso mehr, die traurig und einsam waren, ebenfalls. Nähe gibt es aber nicht nur körperlich. Wenn Sie nun  so viel Zeit haben, weil das Einkaufen nicht so wichtig ist: Wann haben Sie denn die letzte Karte, den letzten Brief (ich meine nicht die weitergereichten WhatsApp-Weihnachtsschmarren…) an Tante Eulalia geschrieben? Wer bekommt ein Päckchen von Ihnen? Wer einen Anruf in regelmäßigen Abständen? Das machen jetzt viele, aber viele sind auch müde geworden und wirken verhalten. Machen wir uns auf die Suche, nach gedanklicher Nähe! Nächstes Jahr meinetwegen wieder Glühwein, wenn wir den dann noch mögen…oder rosa Glitter! Nachtrag 4. November 2020 Woher kommt eigentlich der blöde Spruch Schlimmer geht’s nimmer? Doch, doch geht!, sage ich heute. Als der Tagesspiegel heute früh postet: Trump erklärt sich zum Wahlsieger, ist mir schonmal die Petersilie verhagelt. Dann streiten sich in der Lingener Tagespost Schüler*innen und Lehrer*innen, ob sie die Maske im Unterricht abgenommen haben oder nicht und jetzt noch das Dollste des Tages. Da kommt der Gärtner Pötschke daher und schreibt auf das Kalenderblatt des 4. November: Wenn jeder, der sich dieses Jahr über Schnecken geärgert hat, heute um 20 Uhr alle Lampen ausknipsen würde, dann lägen weite Teile Deutschlands im Dunkel. Wenn jetzt die Schnecken-Geschädigten, die Trump-, Corona-Politik-Geschädigten, die Verfassungs-Besorgten und die abgenerven Schüler und Lehrer alle zusammen heute Abend…nicht auszudenken….Achten Sie mal auf heute Abend 20 Uhr! 3. November 2020 Heute passt irgendwie alles. Todestag unserer Mutter, Besuch im Wald, wo alle Bäume gefällt und kleingeknuspert sind (hoffentlich mitsamt dem Borkenkäfer).Herr Weil ermuntert DerWEIL meine Nachbarn, Regelverstöße zu melden, Heribert Prantl (Süddeutsche) findet, die Corona-Bekämpfung sei zu einem Überbietungswettbewerb geworden und ist nicht gut auf Söder und Lauterbach zu sprechen. Letzteren hat kürzlich die ZEIT SPD-Sirene genannt, sich dann aber halberlei wieder entschuldigt, weil er mit seinen Mist-Prognosen auch noch Recht hatte. Sogar Gunter Dueck ist heute geknickt, wie er im DD (https://www.omnisophie.com/realitioten-oder-kassandra-wird-ignoriert/) schreibt. Er will sich nicht mehr auf Twitter sagen lassen, er habe einen Beruf daraus gemacht, irgendwelche Untergänge vorauszusagen. Ein Wort im Titel: Realidioten, wird schon dafür sorgen, dass trotzdem wieder ordentlich emotional rumgeschäumt wird. Aber zur Kassandra möchte ich kurz anfügen, dass die ja sehr wohl wusste, dass sie nicht gehört werden würde. Also wurde sie immer ignoriert. Da gibt`s also grad nichts zu klagen, Herr Dueck! Was aber dieser seit vielen Jahren im DD (Daily Dueck) veröffentlicht (danke für die vielen guten Gedanken, die ich dadurch haben konnte!) ist zumindest in vielen Köpfen angekommen. Jetzt (besonders jetzt!) könnte man geneigt sein, den Vorrat von Vernunft auf der Welt doch für recht begrenzt zu halten. Die einen schreien „alles Unsinn, übertriebene Maßnahmen“, die anderen „alles noch viel schlimmer“. Ordentlich Geld hat uns die Chose auch schon gekostet. Da schaut Gunter Dueck zu Recht auf seinen kleinen Enkel. Der wird’s richten müssen. Ich bin weit weg davon zu sagen: gut, dass wir schon so alt sind. Aber das Privileg, nicht Künstler, nicht Kleinunternehmer zu sein, sondern Pensionärin, schlägt mir grad schon etwas aufs Gemüt. Während ich hier gelassen und brav den November zu Hause Mozart hörend auf dem Sofa verbringe, sind andere in echter Existenzangst. Klar, dass die Verschwörungserzählungen ins Kraut schießen, wenn ich keine rationale Erklärungsmöglichkeit für mein Scheitern mehr finde. Außer vielleicht: politische Willkür, Unfähigkeit, Selbstdarstellung…im schlimmeren Fall boshaft geplante Willkür der Mächtigen, der Großkonzerne, im schlimmsten Falle Leichen im Keller…Wer soll sich da und wie eine abgewogene demokratietaugliche Haltung zulegen? Ein bisschen von allem glauben? Der Hinweis auf die Zeiten der Pest ist schon angebracht, aber auch na ja…immerhin wissen wir mehr über Ansteckungswege. Dass sich damals junge Leute zu wilden Partys in verlassenen Häusern getroffen haben, das hatten wir ja auch – in Berlin und anderswo. Eine Reaktion auf die Irrationalität der Situation? Trotzreaktion? Die Realitätsverweigerer, die die Sau rausgelassen haben (DD) sind vermutlich überproportional am Infektionsgeschehen beteiligt, aber nicht an allen Folgeproblemen. Rationales, abgewogenes und ruhiges politisches Handeln wäre jetzt passend. Verhältnismäßigkeit! rufen jetzt nicht die Realitätsverweigerer, sondern viele, die Erklärungen wollen, die ihre Privatheit gefährdet sehen. Versperrt vielleicht das große Angstmachen gerade den Blick auch ganz vernünftig, also rational eingestellter Menschen? Oder macht sie mutlos? Sie können ruhig mal geknickt sein, Herr Dueck, aber nur heute! Ihre Mahnungen kamen immer argumentativ daher, manchmal mit Humor, gaben Anlass zum Nachdenken, einen anderen Blick auf die Welt…jetzt nicht hängen lassen! Sie wissen doch: Kassandra! Aber wir brauchen Sie trotzdem! Vielleicht haben Sie noch Lust auf was Albernes: (Teil 2 von: Hilfe, meine Uhr erzieht mich) Die Corona-Crackers finden Sie unter literary nightclub

C. (man kann’s ja nicht mehr hören)

Woran wir alle zu knabbern haben… Corona und anderes…. Eigentlich dachten wir nun, die Pandemie geht so langsam vorüber. Aber gepfiffen, sie ziiieht sich hin….und alle Versprechungen der Linderung können uns nicht mehr so recht begeistern: Na ja, und schließlich kam es am 24. Februar 2022 noch schlimmer… Bei einem Spaziergang an der Zitadelle Spandau fand ich eine Wegbezeichung, die mir noch nie aufgefallen ist und die ich fast ein bisschen tröstlich finde: Auch in den Wirren des Krieges gab (und gibt?) es vernünftig handelnde Menschen… Der Text: Wladimier Samoilowitsch Gall (20. Januar 1919 – 9. September 2011) Am 1. Mai 1945 wurde die Zitadelle Spandau nach zähen Verhandlungen an die Rote Armee übergeben. Dass dies ohne weitere Kampfhandlungen und Verluste geschehen konnte, ist den Bemühungen der russichen Seite zu verdanken, die mit Major Wassili Grissin als kommandierendem Offizier und Hauptmann Wladimir S. Gall als Übersetzer zwei Parlamentäre in die Zitadelle zum dort verschanzten Volkssturm schickte. Durch ihren beharrlichen Mut blieben Zivilist*innen und Gebäude unversehrt. Der in den folgenden Jahren als Kulturoffizier und Dozent tätige Wladmir Gall bemühte sich auch im Kalten Krieg stets um kulturellen Austausch über die Grenzen hinweg. Trotz erfolgter Einladung gelang es ihm aber erst 1985 Spandau wiederzusehen. Er erklärte das so: „Ich war, wie es im sowjetischen Volksmund hieß, invalid am Punkt 5. Der fünfte Punkt auf dem Ausreise-Antragsbogen fragte nach der Nationalität. Und da steht bei mir: Jude…“ Wladimir Gall blieb Spandau auch in den letzten Jahren ein Freund, der für Völkerverständigung und Humanismuus eintrat. 2005 wurde er mit einem Eintrag ins „Goldene Buch“ Spandaus geehrt.       24. Februar 2021 Die Post und der Lift Also gut…kein Wort über C. Sie sind das Leid, ich bin das Leid…aber manchmal gibt’s auch komische Sachen. Heute Morgen klingelt die Post, also eine von diesen Nachfolgeorganisationen unserer guten alten staatlichen Post, wo man … also es klingelt natürlich ein Mensch, der einen Auftrag zum Klingeln bei mir hat, weil ich wegen C. etwas bestellen musste, was ich wirklich brauche, aber normalerweise nie … niemals! bestellt, sondern geholt hätte. Da wir ganz oben wohnen und kontaktlose Übergabe in diesen Zeiten (hab nix mit C. geschrieben!) sinnvoll ist, haben wir die Liftmethode erfunden: Es klingelt ein Bediensteter (24.2., wenn sie nicht verstehen, warum hier männlich gegendert wird: zum 15. Januar herunterscrollen) besagter Zustellorganisationen. Er ruft Paket oder im Zweifelsfall die Post oder eine Päckchen oder große Paket! Unsere anfänglichen Versuche mit einem höflich verklausulierten: Würden Sie das dann bitte in den Lift legen? Ich nehme es oben heraus enden mit Schweigen am anderen Ende, dann einem gepressten Jo und das Paket liegt dann sonstwo, im Schnee vor der Haustür, vor der Tür der Nachbarin…wurde wieder mitgenommen… Meine Blitzidee: Es muss an dem unbekannten Wort Lift liegen. Ist ja auch komisch, lift-up, liften als Gesichtsstraffung. Der nächste Versuch dann also: Können sie das Paket bitte in den Fahrstuhl legen? Was ich nicht gesehen habe, unsere wohlbekannte Zustellerin steht unten und sagt etwas pikiert: Ja klar, wie immer, ich drück auf den obersten Knopf. Und: schönen Tag noch! Ich freu mich: Ihnen auch und danke für den Service! Der nächste ist ein indisch aussehender Zusteller, der trotz bitte in den Fahrstuhl oder ist es schwer, dann komm ich runter mit Jo antwortet und eine schwere Weinkiste, die unten bleiben soll, schon eine Treppe hochgeschleppt hat, bis ich ihn von weiteren Taten abhalten kann. Der Mann tut mir Leid, ich gebe ihm etwas Geld und erkläre: wenn Paket schwer, unten lassen und ärgere mich über meine blöde Erklärungssprache. Erinnert mich an diese platte gönnerhafte Gastarbeiteransprache (was für ein Wort!) der 60er Jahre. (Ach ja: Wenn sie dazu etwas wirklich Authentisches lesen wollen: Mely Kiyak, Frausein, München (Hanser), 2020, 18 €) Grammatikalisch einfach, brummle ich beim Weinverstauen vor mich hin, muss nicht wie Idiotensprache klingen und bin mir selbst etwas böse. Heutiger Versuch nun: Eine Paket! –  Ja danke, ist das schwer? –  Schweigen. – Großes Paket? –  Schweigen.- Legen Sie’s in den Fahrstuhl? (langsam und deutlich sprechen!) – welche Stuhl? Also doch besser wieder Lift?   Corona-Crackers 10 (15.7.20) Von Unter- und Übernasenmaskenträgern (Heute wird Ihnen die entsprechende Abbildung erspart und durch ein niedliches Schnuppernasenbild ersetzt. Sie werden das blöde Bild, das beim Lesen in Ihrem Kopf entsteht,  sowieso nicht vergessen) Berlin ist ja nun echt nicht das Emsland. Allet jut, sagt der Berliner und trägt (jedenfalls viele) die Maske unter der Nase. Das habe ich im Emsland schon auch gesehen, aber nicht in der Menge. Wenn dir in der U-Bahn so ein Unternasenmaskenträger auch noch ordentlich auf die Pelle rückt, dann gibt’s Unwohlgefühle. Und auch den Gedanken: Vielleicht ist das ja auch alles gar nicht so schlimm, aber allet jut, kann ich da nicht empfinden. So übertrieben wie die Fahrradfahrerin, die dieser Tage fast in den Kanal gefahren wäre, weil sie mit 4 Meter Abstand an uns vorbeifahren wollte, das ja nun nicht, aber allet jut? Und dann muss ich immer an diese saublöde Erklärungszeichnung denken, die den Schniepi über der Unterhose zeigt und treuherzig versichert: Wenn du deine Maske unter der Nase trägst, dann wäre das ja so, als würdest du deine Unterhose so tragen…Ich weiß nun nicht, was ich schlimmer finden soll: Die Bedrohung durch die Nase über der Maske (Jaja ich weiß, Mundnasenbedeckung…) oder die blöde Vorstellung, die sich in meinem Kopf jedes Mal breitmacht, wenn ich so einen Unternasenmaskenträger sehe. Übrigens ist mir aufgefallen, dass es viel weniger Unternasenmaskenträgerinnen gibt als Unternasenmaskenträger, weswegen ich mir dieses affige *chen diesmal gespart habe. Von beiden Sorten gibt es zudem im Emsland erheblich weniger. Gepriesen sei das lauschige Emsland! Corona-Cracker 9 (17.6.20) Die Ja-Aber-Krankheit oder das St. Florians-Prinzip Ich kenne sie zur Genüge aus der Schule: Hast du das da hingeworfen/abgebrochen/verschmiert …? Empört: Nein! Ich: Ich habe gesehen, wie du…. Ja, aber … Die Ja-Aberitis befällt Menschen, die die Wirklichkeit nicht so haben möchten wie sie sich gerade darstellt, sondern die eine andere Welt erschaffen, in der Schulkinder unbedingt psychosozial schwer dran sind und darum nicht zum Mülleiner laufen können, in der immer gerade der andere viel mehr hingeschmissen hat und … Am liebsten sind mir dann noch die, die womöglich laut kreischend Ungerechtigkeit! für sich reklamieren. Jetzt hast du bei momo ganz schlechte Karten hat ein Danebenstehender dazu mal gemurmelt. Die Ja-Aber-Erkrankten sind um Moment wieder fix unterwegs mit: Eine Erkrankung ist nicht so schlimm, weil ja nur andere sie kriegen, zum Beispiel Vorerkrankte, Alte …Das macht mich genauso zornig wie … s.o. Ihr seid krank mit eurer Argumentation! Kennen Sie das Sankt-Florians-Prinzip?: Heiliger Sankt Florian, verschon meine Haus, zünd andere an! Ich nenne das auch wohl galoppierende Verantwortungslosigkeit. Zeit, dass euch mal eine*r erklärt, dass wir alle zusammen Verantwortung tragen für oder gegen die Ausbreitung des Virus‘, solange wir noch nicht sicher wissen (können), wie wir es wieder loswerden oder unschädlich machen können! Corona-Cracker 8 (16.6.20) Corona-Zwischenbilanz Einige ziehen ja jetzt Bilanz. Schulen, die sagen wir haben einen digitalen Sprung nach vorne getan und behalten Elemente davon bei, Menschen, die sagen ich bin endlich mal dazu gekommen, den Garten ordentlich zu machen oder in Ruhe mal…Manches hört sich da ganz positiv an, aber diejenigen, die auf unser wildes Einkaufsverhalten angewiesen sind, haben im Moment wohl ordentlich das Nachsehen. Sollten wir gerade von einer verschwendungssüchtigen Konsumbande zu zurückhaltenden nachdenklichen Einkäufern werden? Ein Teil hat sich als Online-Käufer (eben nicht) auf den Weg gemacht. Das sind diejenigen, die dann sehr laut jammern, unsere Innenstädte würden ja so öde. Ein Teil hat Einkommenseinbußen und das Geld sitzt dann vernünftiger Weise nicht so locker. Es gibt noch eine dritte Gruppe von Kaufabstinenten: Diejenigen, die entdeckt haben, dass man vieles gar nicht so dringend braucht… Gibt es jetzt zu hoffen, dass es bei der zukünftigen Entwicklung genügend Frust-Kompensations-Käufe gibt! Corona-Cracker 7 (26.5.20): Fleischtheke mit Beziehungskiste – coronamäßig Manche Paare gehen nie zusammen einkaufen und man kann das auch für eine weise Entscheidung halten – wenn auch nicht immer bewusst. Heute an der Fleischtheke vor mir ein älteres Paar (etwa so alt wie wir, ergänze ich gedanklich dann immer masochistisch), das sich offenbar zu einem sozialen Experiment entschlossen hatte, dessen Ausgang ich für zumindest zweifelhaft halten würde. Da ja in etwas älteren Beziehungen der Subtext mindestens so wichtig ist wie der gesprochene Text, schreibe ich den hier mal in Klammern dazu (man konnte ihn deutlich hören). Der Gatte steht so nahe beim umkämpften Nummernautomaten (wieso eigentlich Automat, wenn man die Kärtchen fast mit den Zähnen abbeißen muss, um an ein einzelnes zu kommen?) und wird durch seine Gattin hingewiesen: Du stehst zu nah (Männer!). Er: Wieso? Und woran zu nah? Sie: Am Nummernautomaten! (den nehm ich nicht wieder mit!) Derweil versucht eine Dame sich schlangenähnlich um ihn herumzuwinden, dabei auf einen gewissen Abstand zu achten und den begehrten Zettel zu erwischen, der will aber nicht abreißen. Jetzt komm hierher, sagt die Gattin schon sehr nachdrücklich. (den nehm ich nie wieder mit!) Das wirkt, scheint ein alt-ultimativer Ton zwischen den Beiden zu sein. In der Schlange langweilt er sich natürlich sofort und will die Einkaufsliste sehen. Sie holt eine Art Schreibheft heraus, eine Seite, eng beschrieben, hält sie ihm hin und sagt: Das findest du doch gar nicht (ich will auch gar nicht, dass der überhaupt irgendwas findet, ist sowieso das Verkehrte und dann muss ich auch noch diskutieren). Missmutig trottet er los, holt etwas, womit sie ihn sofort zurückschickt. Als sie dran ist, fragt sie ihn nach seiner Meinung zu einem Fleischstück. Er hat offenbar keine Ahnung von der Materie, nimmt aber inzwischen doch die etwas gereizte Stimmung wahr und will schnell etwas sagen: Ist doch egal. Böser Blick (aber dann beim Essen meckern!) Zweiter Versuch: Das größere! Noch böserer Blick (als wenn es bei mir schon irgendwann mal nicht satt gegeben hätte!) … Später treffe ich die Beiden beim Shampooregal. Die Stimmung ist nicht besser. Man hört sie schon ein Warengestell weiter. Dann nimm doch, was du willst, sagt sie mit scharfem Unterton. (jetzt will der auf einmal Ahnung von Shampoo haben, lässt es sich aber die letzten 30 Jahre ins Bad legen). Ich habe das soziale Experiment nicht zu Ende verfolgt. Spätestens an der Kasse hätte ich lachen oder weinen müssen. Ich will ja nur hilfreich sein, höre ich noch vom Gatten (mein Gott, jetzt gehe ich schon mal mit, aber ich spüre keine Dankbarkeit für meine Heldentat!). Warum tun Menschen sich das an? Coronafolgen? Corona-Cracker 6 (23.5.20): Man soll ja immer das Positive sehen oder: Corona-Stille in der Lingener Innenstadt Ist jetzt immer so schön still hier, rufe ich dieser Tage vom Balkon (ziemlich laut wegen des Abstandes). Die neue Nachbarin erstaunt: Ist das hier sonst nicht so? Ach, Sie sind ja im Winter eingezogen, fällt mir da ein. Seit ein paar Tagen ist das mit der Stille allerdings so eine Sache. Der Skaterplatz an der Ecke ist zu neuem Leben erwacht. Es ist einer von diesen wunderbar sonnigen Balkon-Tagen in der Innerstadt Lingens. Bis ich das trockene Pengg-Klakk der Skateranlage höre und dann eine von diesen Musiksorten, die nicht in mein Lieblingsrepertoire gehören. Das geht dann den ganzen Tag so (und oft auch nachts), weiß ich. Mir hat das ja so nicht direkt gefehlt, aber den jungen Leuten offenbar schon – und so sei’s ihnen gegönnt. Wissen Sie, erzähle ich der neuen Nachbarin (immer noch zu laut). Sonst haben wir im Sommer hier ja immer die Klopfer auf dem Kanal. Tiere? fragt sie erstaunt. Nein, Drachenboote, die klopfen, also genauer: ein Mensch darin klopft und zählt dann immer bis 12. Wieso 12? fragt sie noch erstaunter. Daran kann man sehen, dass die neuen Nachbarn keinerlei Innenstadterfahrung haben. Es gibt einmal im Jahr einen Drachenboot-Wettbewerb. Da ist dann allerdings die Musik (auch nicht meine Lieblingsmusik) lauter als das Klopfen, erkläre ich. So ein Tag im Jahr, das macht doch nichts, sagt sie arglos und daran kann ich erkennen, dass sie wirklich nie in der Lingener Innenstadt gewohnt hat. Das stimmt, sage ich, und um ihr die Freude an diesem stillen Sommer so richtig plastisch zu machen: Immer, wenn es schön und warm genug ist, um auf dem Balkon zu sitzen, kommen die Klopfer zum Trainieren: eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, acht, neun, zehn, elf, zwölf, eins, zwei….. Lassen Sie mal, ich fange gerade an die Stille zu genießen, lacht sie. Corona-Cracker 5 (19.5.20): Die Hauptlast tragen ja die Frauen… Die Hauptlast tragen ja die Frauen, liest man jetzt mal in den Zeitungen. Manchmal untermauert mit Fakten (Homeoffice mit eingebauter Kinderbetreuung…), manchmal unangenehm lapidar als Weltgesetz festgestellt, in jedem Falle folgenlos. Oder sollen wir gerade mal von den Balkonen winken?! Singen? Bettlaken bemalen? Das soll ja den Betroffenen sowas von helfen! Nicht dass Sie mich für zynisch halten: Gesellschaftliche Anerkennung tut denjenigen, die uns durch diese Krise tragen, gut. Aber: Das ist natürlich nicht genug. Gestern sagte ich launig zu einer alleinerziehenden Mutter: Ich bin für die Wiedereinführung des Mutterkreuzes. Und ich sowas von, antwortete sie ebenso launig. Ich denke, sie hat verstanden, was ich eigentlich sagen wollte und ich hätte dann bitteschön sofort gerne meine saudoofe Bemerkung zurück!! Gerade nicht: Gesellschaftlich folgenlose (Schein-) Anerkennung, sondern die Selbstverständlichkeit der Berufstätigkeit von Frauen und die Regelung dessen, was die Betreuung von Kindern nötig macht. Und nicht wieder in den Verantwortungsbereich von Frauen zurückgeben, sondern alle damit befassen. Das funktioniert im Moment – kaum zu glauben, dass das möglich ist- noch schlechter als sonst! Corona-Cracker 4 (16.5.20): Eigentlich London, jetzt aber Friedhof oder:  Die Alten Diese Woche wären meine Tochter und ich in London, heute auf dem Rückweg über Brüssel. Mit pompösem Gong erinnert mich die Bahn-App an meinen Zug, den ich in Bruxelles-Central nicht versäumen soll. Bisschen komisch kommt mir dieses Gebimmel schon vor, denn ich bin grad auf dem Friedhof, und zwar in Lingen. Von zwei Straßen weiter höre ich lautstarkes Reden darüber, dass die Alten ja selber Schuld seien, sie gingen einfach nicht weit genug zur Seite. Überall kämen einem die Alten viel zu nahe, dabei müsse man für die Alten ja schon zu Hause bleiben und allerlei Unbequemlichkeiten in Kauf nehmen. Diese Dame weiß offenbar nichts von Schallausbreitung und noch weniger von der durchdringenden Qualität ihrer Quäkstimme. Wohl auch nichts von differenzierten Urteilen oder sie holt sich einfach eine Portion Zustimmung ab, wo sie vermutet, diese wohlfeil bekommen zu können. Bei solchen Gesprächs-Monologen geht es nicht um den Inhalt, das könnte auch ein Referat über den Nussgehalt verschiedener Nougatcremes sein oder die Empörung darüber, dass es nachts gefroren hat und sich das nicht gehört im Mai. Ich höre außer zustimmendem Gebrumm nur ihre Stimme, die sich in immer höhere Höhen schraubt vor Empörung über die Alten. Dass es in solchen Situationen nicht lohnt, in eine Argumentation einzusteigen, ist leidlich bekannt. Ich gehe in der Nähe vorbei, grüße sehr freundlich und denke verblüfft: Sieht die nicht eigentlich älter aus als ich? Und eigentlich bin ich ja auch grad in Bruxelles-Central… Corona-Cracker 3 (14.5.20): Das Schnauzen-Schürzchen Vergiss nicht dein Schnauzen-Schürzchen, sagt mein Gatte zu mir beim Aussteigen aus dem Auto. Keine Frage, ich war ja schon einkaufen. Ich nenne diese Aufenthalte im Supermarkt für mich jetzt Augenausflüge. Was mir früher nie aufgefallen ist: Bei manchen Menschen kann man an den Augen sehen, ob sie lächeln, manche sehen allerdings immer gleich böse aus mit Schnauzen-Schürzchen (ohne vielleicht auch?). Ich rede jetzt nicht von Lachen, da sieht man ja immer die Hautkräuselung, die sich bis um die Augen zieht. Mimik-Falten hat mir die Kosmetik-Industrie beigebracht und wollte mir mein Leben lang für die Dinger um die Augen Extra-Cremes in besonders kleinen Töpfchen mit besonders hohem Preis verkaufen. Muss ich jetzt bitter dafür büßen und das Schnauzen-Schürzchen bringt es brutal an den Tag? Weiß ich nicht, ich schau mir nur die anderen Augen an. Forever young? Son Quatsch. Das Bemühen um oder gegen kleine Augenfalten war mir immer schon fremd und kommt mir grad so gaaanz weit weg vor… Corona-Cracker 2 (12.5.20): Mein Corona-Cracker von heute wird ein bisschen traurig: Wir hatten ja das Glück, viel reisen zu können (und zu wollen) mit Beginn unseres Berufsverbots aus Altersgründen (Pensionierung genannt). Wir haben auf diesen Reisen viele wunderbare Menschen getroffen, die vom Reisen und den Touristen leben (müssen). Ich möchte heute an Boulé und den Picasso Javas (so wird er etwas scherzhaft genannt) denken. Bestimmt geht es Beiden nicht nur nicht gut, sondern sie sind in ihrer Existenz bedroht. Das Bild ist im Atelier des Batikkünstlers in Java gemacht, rechts ist Boulé, unser Reiseführer, links eine Helferin. Die Frauen (!) saßen dort auf dem Boden und führten mit diesen winzigen Wachskännchen diese x-fachen Färbungen unter Abdeckung anderer Flächen durch. Sie wirkten sehr fröhlich und sehr freundlich! Mit Boulé hatte ich morgens beim Frühstück (wir waren alleine) ein etwas intensiveres Gespräch führen können. Er wollte mir zunächst mein Lebensalter nicht glauben, es stand definitiv der Verdacht im Raum, ich hätte in meinem Leben wohl nicht viel gearbeitet. Er sagte: Die Menschen hier sehen viel älter aus als du, momo. Ich fühlte mich ein bisschen beklommen und fragte ihn nach seinem Leben. Er erzählte lange und interessant und sagte dann, er hoffe auf einen frühen Tod. Nicht irgendwie emotional, sondern sachlich. Er habe durch seine Tätigkeit und wegen der letzten Rezession keine Rücklagen für sein Alter bilden können und wolle seinen Kindern keinesfalls zur Last fallen. Ich dachte an meine Pension und unsere Reisepläne für das nächste Jahr und war sehr beschämt. Das merkte er und sagte: Ihr helft doch schon, indem ihr herkommt. Und als ich mit den Schultern zuckte: Ihr könnt auch dem Künstler, genannt der Picasso Javas, helfen, indem ihr etwas kauft. So ist diese große Batik in unseren Haushalt gekommen. Wenn ich draufschaue, denke ich an Java und Boulé und all die anderen, die im Moment und wohl auch lange nicht mehr vom Tourismus leben können. So hat vieles eben mehrere Seiten. Weiter, schöner, mehr, das ist ja zu Recht die Lehre, die wir im Moment ziehen, sind auf Dauer keine alleinigen Lebens- und Wirtschaftsziele, aber.. Corona-Cracker 1 (11.5.20): Vor einem großen Drogeriemarkt fährt schneidig ein etwa Zwölfjähriger mit seinem BMX-Rad vor. Er landet ebenso schneidig neben der Friseurschlange (Achtung, neue Wörter!) Eine ältere Dame (die nach meiner Beobachtung dort berechtigt und mit Geduld steht) fragt ihn leutselig: Und freust du dich auch schon auf die Schule? – Falsche Frage, Mutti, denke ich automatisch. Der coole Radler darauf mit leuchtenden Weihnachtsaugen: Oh ja, sehr!

Tipp Nr. 20: Schulze, Die rechtschaffenen Mörder

Ingo Schulze, Die rechtschaffenen Mörder Das liest sich zunächst wie eine neutral erzählte Biografie eines Buchhändlers. Etwas lapidar berichtet der Tod der Mutter, das Aufwachsen auf deren Büchern, später wird er leidenschaftlicher Leser, geachteter Dresdner Antiquar, der wie eine besondere Festung der Kultur von gleichgesinnten Lesern umgeben wird. Dieser Biografie-Erzählton, der in eine Bücherwurm-Sessel-Situation mit mäßigem Interesse nötigt, na ja, denkt die Leserin. Was soll das schon werden? Aber: Dieser Erzähler ist ein Schlitzohr! Plötzlich ein Ich-Erzähler (hä, wer denn?), gegen den man sofort den Verdacht hegt, ihn schon mal überlesen zu haben. (stimmt, S. 8!) Und dann allerlei Finten und Fährten, plötzlich der Abbruch dieses Romanteils. Der zweite Teil ist in der Ich-Perspektive eines Autors (Schultze, nicht Schulze!) geschrieben, dem die Leserin dann aber schon nicht mehr so ganz über den Weg traut. Auch dieser ergeht sich in Andeutungen und streut wie Hänsel Brösel in das ostdeutsche Ambiente. Im dritten Teil nun bekommen wir es mit der Lektorin jenes Autors zu tun, die den Streuseln folgt, solange sie noch nicht gefressen wurden. Was findet sie? Einen Mord – einen Unfall – einen Doppelselbstmord? Auch mehrere Angebote, den Mörder zu phantasieren und einen ziemlich fiesen Autor, der andere erpresst. Die irritierte Leserin tut etwas, was selten vorkommt: Ich habe diesen Roman direkt ein zweites Mal gelesen! Befund: Brillant erzählte Figurenscharade, schillernde Ost-West Klischees, die sich immer dann aus dem Licht drehen, wenn man ihrer gewiss zu werden droht. Die Figur des großen Lesers, der kulturell mit allen Wassern gewaschen, nur moralisch integer sein kann, sich aber unter erschwerten Wende-Bedingungen (kapitalistischer Literaturbetrieb) zum Radikalinski wandelt?! Das ist toll erzählt, lässt dem Leser genug Luft zum selber entdecken und ich habe den Text auch beim zweiten Lesen sehr genossen. Danke an das Erzähler-Schlitzohr! Kompliment, Ingo Schulze! Lesen!!! Ingo Schulze, Die rechtschaffenen Mörder, Frankfurt/Main 2020 (Fischer, 320 S., 21€)

Die Technik und ich

(Vor einigen Wochen habe ich mir eine Fitnessuhr gekauft…zum Musikhören…) für Teil 2 bitte ein bisschen scrollen Hilfe! Meine Uhr erzieht mich…(Teil 1) Sie gebärdet sich allen Ernstes pädagogisch… ich bin da allerdings etwas empfindlich, wahrscheinlich ist das ein Berufsschaden. Ich erinnere mich an einen bestimmten wohlwollend-betulichen Ton, den zum Beispiel unsere Beratungslehrerin draufhatte und vor dem alle Schüler*innen älter als 10 auf der Flucht waren. Dieser Ich will ja nur dein Bestes-Ton (und ich weiß, was für dich das Beste ist…) ist geeignet, massiven Widerspruch herauszufordern bei jedem, der entschlossen ist, sein eignes Hirn zu nutzen! Überhaupt stört mich von Anfang an und immer noch, dass alle Geräte dieser Obstfirma mich duzen. Was soll die Anbiederei? Na gut: Ich wollte bei meiner Pensionierung gerne umrüsten wegen der beruflichen Dominanz der M-Firma gegenüber der A-Firma. Alle unsere Schüler*innen waren dort geparkt und keine Sau hätte meine Produkte weiter verarbeiten können. Also mehr so aus Daffke und Protest… und wegen des schicken Designs. Später bin ich reumütig zu einem Office-Paket zurückgekehrt, weil ich das Mikeymouse-Schreibprogramm der Obstfirma furchtbar fand. So macht man halt seine Pensionärserfahrungen! Komfort wie Datenübertragung besagter Firma ist gut, Speicherplatz auf den Notebooks allerdings ein Witz, so dass man praktisch in die Cloud gezwungen wird. Der Bedienkomfort ist – wenn man den Geräten das Gequatsche abgewöhnt hat gut (mit mir redet kein Apparat!! Keiner! Niemals!), die Preise sind ein echtes Mondprogramm…Aber: Es gibt nur überzeugte Nutzer, geradezu Gläubige des Konzepts und Verabscheuer…na gut, das Wort gibt es nicht, aber der gewiefte Leser weiß, was ich meine… Aber der Reihe nach: Die Uhr nun habe ich gekauft, um Musik einfacher dabei haben zu können, also auch ohne Handy in der Muckibude. Nachdem ich mich seit Jahren regelmäßig in die Kabel meines kleinen Einfachplayers verstrickt, geradezu verknotet hatte, habe ich mich nun umgesehen, wie man das Musikproblem lösen kann ohne dieses Verhedderungsprogramm, also per Bluetooth. In meiner Muckibude liefen immer ein paar schicken Typen rum, die ihr Handy bedächtig jeweils in die Nähe der von ihnen malträtierten Geräte wie eine kleine Trophäe hintrugen, es dort gewichtig niederlegten und ihrer Arbeit nachgingen. Das fand ich affig. Ich will mein Handy nicht mit zum Training nehmen. Ich fand heraus, dass die Obstfirma auch eine Uhr baut, die mittels GPS meine Musik streamt und per Bluetooth an meine kleinen Ohrstöpsel überträgt. Genial, dachte ich. Gedacht, gekauft, Schnappatmung über den Preis erfolgreich unterdrückt. Nun habe ich ja die Einstellung, dass man alles, was man neu besitzt, auch gründlich ausprobiert. Was soll ich sagen? Mein Entsetzen kennt keine Grenzen: Meine Uhr lobt mich, meine Uhr ermahnt mich, meine Uhr ermutigt mich. Da steckt echt eine pädagogische Haltung dahinter. Schrecklich. Wer hat sich sowas einfallen lassen? Ein geistig verirrter Sportpädagoge? Hat der schon mal was von Eigenverantwortung gehört? Das Schrecklichste stand mir noch bevor: Meine Uhr fordert mich zum Atmen auf! Also sagt mal, geht’s noch? Gebe ich mit dem Erwerb dieser Uhr mein Hirn in Zahlung? Heute hat sie mich gefragt, ob ich gestürzt bin, nachdem ich die Kissen aufgeschüttelt, also eher etwas kräftig geklopft hatte. Dazu leuchtete dann gleich ein Notfallzeichen auf. Dankenswerter Weise konnte ich aber schriftsprachlich erklären, dass ich nicht gefallen und bei guter Befindlichkeit bin. Am widerlichsten aber finde ich dieses Du kannst es noch schaffen! Gütiger Gott, was denn? Und will ich das denn? Musik hören kann man mit der Uhr allerdings sehr schön, aber für pädagogisch vorgeschädigte Menschen ist sie ansonsten eher eine Herausforderung. Achte auf deine Kreise, sagt sie gerade. Jaja, mangelnde Aktivität im Trainingsbereich, denke ich und stutze, verflucht!, meine Uhr manipuliert mich, ich will lieber weiterschreiben… Ich glaube nicht, dass wir so richtige Freunde werden, meine Uhr und ich… Teil 2: Hilfe! Meine Uhr erzieht mich… Na sagen wir, sie versucht es. Warum soll es dieser blöden Uhr anders gehen als jedem Lehrer? Ich glaub, ich bin mit ihr in die Trotzphase eingetreten, irgendwie Pubertät. Dass es so etwas in meinem Alter auch nochmal geben kann? Erzähl mir keiner was von mit Notwendigkeit ablaufenden Reifungsprozessen! Oder hat schon mal wer bei Erikson von Ausbruch einer Trotzphase bei einer Einundsiebzigjährigen gehört? Es gibt offenbar ein dynamisch-logisch ablaufendes Beziehungsgeflecht zwischen Erzieher (hier: Uhr, erst neu, dann wenige Wochen alt) und Zögling (erst ausgeliefert, dann findig). Ist es nicht so, dass der ganz brave Grundschüler erstmal macht, was die Lehrerin von ihm will? Dann entdeckt, dass man sie austricksen kann? Wenn man ein bestimmtes Stichwort fallen lässt und zuverlässig mit entspannten Minuten rechnen kann, weil erzählt wird und erzählt oder geschimpft und geschimpft oder angeschrieben und angeschrieben…Wenn meine Uhr atmen empfiehlt werde ich nicht 60 sec. wie ein Walross schnaufen, obwohl ab und zu tue ich das jetzt, weil das gar nicht schlecht …aber natürlich nicht, wenn sie das will. Die größte Renitenz ist dann noch, die Uhr abnehmen und die 45 Stufen hoch zu laufen. Ha…und wehe sie maßregelt mich! Heute zu wenig Training, keine Treppen nix. Und, blöde Uhr, geht dich das was an? Manchmal guck ich mir doch aber meine Trainingsringe an und wundere mich, wann ich das gemacht haben soll. Obwohl: Gartenarbeit wird nicht ordentlich protokolliert, da werde ich dann die Lernziele nicht erreichen, aber doch zu meiner allergrößten Zufriedenheit herumwerkeln. Ich glaube so – also mit etwas emanzipierter Entspanntheit- kommen wir beiden dann zurecht. Und heute hat sie absolut bei mir gepunktet: Über die neuen Ohrstöpsel stundenlang Mozart gehört. Herrlich!